Autorin beim Lesen Ihres Buches

Auszug aus dem Buch: Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. Roadmap für den Alltag.“ Kösel Verlag München, 2019

Nur wer für sich selbst sorgt, kann auch für andere sorgen. Die praxisorientierten Tipps dienen dazu, sie direkt in den Alltag zu integrieren.
Bild © andreamuehleck.com

Abschalten

Sich von anderen Menschen abzugrenzen ist die eine Sache. Aber wie grenzen wir uns gegenüber uns selbst ab? Wie sagen wir Nein zu unseren Gedanken und Sorgen, die uns insbesondere vorm Einschlafen und am Sonntag belasten? Wie schalten wir ab von unseren Gedanken an die Arbeit, wie stoppen wir das Grübeln über bevorstehende oder unerledigte Aufgaben? Wie schaffen wir also auch in unseren Gedanken Kapazitäten für Ausgleich und damit unsere Selbstfürsorge?

Zunächst ist es wichtig zu beachten, dass es fürs Grübeln und Sich-Sorgen-Machen, fürs Nicht-abschalten-Können, Auslöser und Trigger gibt, deren wir uns zunächst entledigen sollten. Wenn ich abends vor dem Schlafengehen noch meine E-Mails checke, aktiviere ich meine Gedanken über die Arbeit damit geradezu. Wenn ich am Wochenende mit meiner Familie über die Probleme im Job rede, komme ich ja erst auf sorgenvolle Gedanken. Und wenn ich im Urlaub für meinen Chef und meine Kolleginnen erreichbar bin, bleibe ich unterbewusst ständig im Stand-by-Modus.

Falls es auch Ihnen schwerfallen sollte abzuschalten, Sie sind nicht allein: Von den 1200 Befragten in der bereits zitierten Stressstudie der Techniker-Krankenkasse, die ja einen Querschnitt der erwachsenen deutschen Bevölkerung abbildet, können knapp 40 Prozent nicht am Abend beziehungsweise Wochenende und etwa ein Drittel nicht im Urlaub richtig abschalten.[1] Da wundert es auch nicht, dass die Rate an Schlafproblemen und Schlafstörungen zunimmt. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen schlafen dreimal pro Woche oder häufiger schlecht ein oder durch, 43 Prozent fühlen sich tagsüber ziemlich oft, meistens oder immer müde.[2] Die Fähigkeit abzuschalten ist ein wichtiger Faktor, wenn es um die Qualität der Regeneration und Balance geht. Es bedeutet, seine Aufmerksamkeit von einem Thema ab- und sich anderem zuzuwenden.

Eine große Analyse, in der alle relevanten Untersuchungen zum Thema »Abschalten« zusammengefasst und neu ausgewertet wurden, zeigt, dass diejenigen, die in ihrer Freizeit alle Gedanken an die Arbeit vergessen, weniger erschöpft sind, eine größere Lebenszufriedenheit haben, sich insgesamt besser fühlen, besser schlafen und körperlich gesünder sind. Sie können Aufgaben bei der Arbeit effizienter erledigen und zeigen eine höhere Leistungsfähigkeit. Dabei gab es keine Unterschiede nach den Geschlechtern.[3] Sich mit anderen Themen zu beschäftigen oder mal rauszukommen hat großen Einfluss auf unsere Kreativität. In einer Studie schickte der Neurowissenschaftler David Strayer von dreißig Männern und 26 Frauen rund die Hälfte für vier Tage in die Berge, während die anderen am Computer weiterarbeiten mussten. Diejenigen, die an dem Ausflug teilgenommen hatten, schnitten hinterher in Kreativitätstests um 50 Prozent besser ab.[4]

Abschalten und Raum für Regeneration und Entspannung zuzulassen ist also ein wichtiger und wesentlicher Faktor, um gesund und nicht zuletzt leistungsfähig zu bleiben, also keine egoistische Angelegenheit. Was bringen Sie Ihrem Unternehmen, wenn Sie zwar zwölf Stunden am Schreibtisch sitzen, nachts noch E-Mails checken, nur fünf Stunden schlafen, sich aber nicht mehr konzentrieren können, Ihre Kreativität und Produktivität einbüßen? Die Kunst »erfolgreicher« und widerstandsfähiger Menschen ist, dass sie trotz ihres zeitlich und inhaltlich umfassenden Engagements für ihre Aufgaben, sei es im Beruf oder im Ehrenamt, bei der Pflege von Angehörigen oder in der Erziehung der Kinder, zu gewissen Zeiten ihre Aufgaben außen vor lassen und anderen Beschäftigungen und Gedanken nachgehen, ihren Kopf also frei machen, und sich genügend Zeit für Schlaf und Erholung gönnen. Nehmen Sie sich also besser nicht Napoleon zum Vorbild. Von ihm wird überliefert, dass er sehr stolz darauf war, nur fünf Stunden schlafen zu müssen. Er soll gesagt haben: »Vier Stunden schläft der Mann, fünf Stunden die Frau, sechs ein Idiot.« So ganz hat das wohl auch bei Napoleon nicht funktioniert, denn er sei immer wieder auf seinem Pferd eingeschlafen, und seine Leute waren froh, wenn er nicht heruntergefallen ist …

Regelmäßig abzuschalten und sich zu erholen ist wichtig, um wach und widerstandsfähig zu bleiben. Dabei muss es nicht um eine strikte Trennung von Aufgaben und Freizeit, Beruf und Privatem gehen. Zwischendrin an etwas anderes zu denken, etwas anderes zu erleben und zu sehen, uns mit anderen Themen und anderen Menschen zu beschäftigen lässt uns kurz- und längerfristig Distanz gewinnen und aus der Tretmühle aussteigen. Ein Hobby, dem wir gern nachgehen und das unsere Aufmerksamkeit erfordert, bietet einen guten Ausgleich zu unserer sonstigen Beschäftigung in der Firma oder im Ehrenamt. Der Jahresurlaub reicht übrigens nicht, denn spätestens eine Woche nach der Rückkehr sind wir wieder in unserem alten Gedanken- und Verhaltenstrott. Die Erholung ist nach einer Woche dahin, selbst wenn wir mehr als zwei Wochen in Urlaub waren. Die positiven Effekte des Urlaubs sind ab dem achten Urlaubstag am stärksten, was die Autoren der entsprechenden Studie veranlasste zu empfehlen, mehrmals im Jahr etwa acht Tage Urlaub zu machen, um möglichst große Erholung über die Freizeiten zu generieren.[5]

Auf den einen Urlaub können wir uns also nicht verlassen, wenn es ums Thema »Abschalten« geht. Wir müssen uns im Alltag immer wieder Möglichkeiten schaffen, in denen wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf anderes richten und die »Arbeit« aus dem Kopf bekommen.

Das klingt einfach, ist aber gar nicht so leicht. Die ständige Erreichbarkeit wird oft als Grund aufgeführt, weshalb wir nur mehr schlecht abschalten können. Interessanterweise zeigen allerdings nur 12 Prozent der Erwerbstätigen ein hohes und sehr hohes und weitere 15 Prozent ein mittleres Maß an Verfügbarkeit, wenn tatsächliche Erreichbarkeit erhoben wird (zum Beispiel, ob abends zu Hause E-Mails bearbeitet oder im Urlaub dienstliche Anrufe entgegengenommen werden) und nicht nur gemeint ist, dass Kollegen oder die Firma prinzipiell die private Nummer haben.[6] Es muss also noch andere Gründe geben. Heutzutage ist es wirklich schwierig, das Ende des Arbeitstags zu definieren. Nie sind alle Anfragen abgearbeitet, immer gäbe es etwas, was man noch tun könnte und vermeintlich müsste. Durch neue Technologien haben wir die Möglichkeit, E-Mails und so weiter auch von zu Hause aus zu bearbeiten; und wenn wir unsere Arbeitsaufgaben beschließen, kommen unsere privaten Möglichkeiten und Verpflichtungen dazu. So ist auch unsere Freizeit (im Wortlaut ja eigentlich freie Zeit) zu einer einzigen Agenda geworden. Insofern liegt eine große Verantwortung bei uns, selbst zu entscheiden, wann der Arbeitstag vorbei ist und wie wir in unserer Freizeit bewusst freie Zeit erhalten. Wir dürfen nicht allein auf die Ansage unserer Vorgesetzten warten. Schön, wenn eine sinnvolle Begrenzung von Führungsseite kommt, wir sind jedoch in der Regel diejenigen, die einen Schlussstrich ziehen müssen, und zwar bei beruflichen und bei privaten Aufgaben. Wir schalten in unserer Eigenverantwortung das Smartphone, den Fernseher, die Nachrichten ab, um Erholungszeiten zu finden oder eben nicht: Jeden Fünften unter dreißig und jeden Zehnten zwischen dreißig und vierzig Jahren stört zum Beispiel das Handy beim Schlafen: »Mein Smartphone auf dem Nachttisch verhindert häufig einen erholsamen Schlaf.«[7] Wieso liegt es denn dann dort?

Wie lässt sich das »Abschalten« gut in den Alltag integrieren? Sie brauchen keine langen Pausen, es muss nicht immer der Feierabend, das Wochenende oder der Urlaub sein. Viel wichtiger ist es, dass Sie tagsüber Ihrem Körper und Gehirn zwischendurch Pausen gönnen, um den Adrenalinspiegel zu senken und in die Entspannung zu kommen. Da die Stresshormone relativ schnell abgebaut werden, reichen schon regelmäßige kleinere Pausen von fünf Minuten, in denen Sie erstens Ihre Körperhaltung ändern (aufstehen, Treppen steigen, sich strecken), zweitens den Ort wechseln (an die frische Luft oder in ein anderes Zimmer gehen) und drittens an etwas anderes denken (an das Abendessen, den bevorstehenden Urlaub) oder sich mit Kollegen über die Freizeit austauschen. Wichtig ist, dass der Körper und das Gehirn nicht verlernen, zu entspannen und »runterzuregulieren«. Wie soll das Gehirn sonst am Abend im Bett die sorgenvollen Gedanken abschalten, wenn es bis kurz vor dem Schlafengehen dauerhaft in Anspannung und Alarmbereitschaft war? Woher sollen denn die Blutgefäße wissen, dass sie sich entspannen und wieder weit stellen dürfen, um den Blutdruck zu senken, wenn sie den ganzen Tag im Kampf-oder Flucht-Modus waren und den Körper dafür mit Blut versorgen mussten? Gutes Abschalten kann also nur funktionieren, wenn Sie es auch tagsüber in Ihren Alltag integrieren und regelmäßig zulassen. Notieren Sie kleine Pausen als Termine in Ihrem Kalender, erinnern Sie sich mit dem Timer Ihres Smartphones daran, für fünf Minuten Abstand zu gewinnen und durchzuatmen.

Was kann uns darüber hinaus dabei helfen, dass wir regelmäßig abschalten? Hier ein paar Beispiele:

  1. Machen Sie tagsüber Pausen ohne Handy und ohne Laptop. Wenn Sie Brösel in Ihrer PC-Tastatur finden, ist das ein schlechtes Zeichen.
  2. Nehmen Sie sich Zeit, laufende Prozesse am Arbeitsplatz noch abzuschließen, um sie weder in Gedanken noch als Akten oder im Laptop mit nach Hause nehmen zu müssen.
  3. Erstellen Sie vor dem Feierabend eine realistische Agenda für den nächsten Tag. Haken Sie die erledigten Punkte der heutigen Liste ab. Wir lieben solche To-do-Listen, und vor allem das Abhaken gibt uns ein gutes Gefühl.
  4. Etablieren Sie wenn möglich ein Ritual am Schreibtisch, um den Feierabend einzuläuten (zum Beispiel dreimal auf den Schreibtisch klopfen oder ein Schild aufstellen mit der Aufschrift »Feierabend« …). So konditionieren Sie Ihr Gehirn auf Freizeit.
  5. Nutzen Sie die Zeit im Auto oder in der Bahn zur Entspannung, und hören Sie zum Beispiel Musik oder ein Hörbuch.
  6. Zu Hause angekommen, legen Sie Ihr Dienst-Handy außer Sichtweite und schalten es aus.
  7. Gestatten Sie sich, zeitlich limitiert über Themen aus der Arbeit nachzudenken. So kämpfen Sie nicht gegen die Gedanken, sondern lassen sie begrenzt zu.
  8. Wechseln Sie, wenn Sie nach Hause kommen, Ihre Kleidung. Viele machen das ganz intuitiv. So signalisieren Sie sich: »Jetzt ist Feierabend.«
  9. Duschen Sie sich, wenn Sie nach Hause kommen. Sinnbildlich waschen Sie so die Belastungen des Tages ab.
  10. Nehmen Sie sich fünfzehn Minuten nur für sich selbst, um zu Hause beziehungsweise in Ihrer Freizeit anzukommen, falls neue, private Aufgaben anstehen (einkaufen gehen, Kinder ins Bett bringen, Steuererklärung machen).
  11. Lenken Sie sich ganz bewusst ab, lösen Sie Rätsel, hören Sie Musik, lesen Sie einen Roman, gehen Sie tanzen, machen Sie Sport, um auf andere Gedanken zu kommen. Erinnern Sie sich an die Liste der Ressourcen? Da finden Sie weitere Anregungen.
  12. Falls Sie in Ihrer Freizeit für den Arbeitgeber erreichbar sein müssen, klären Sie die genauen Zeiten ab. In den seltensten Fällen ist eine ständige 24-Stunden-Verfügbarkeit nötig. Dasselbe gilt für den Urlaub.
  13. Lesen Sie keine Mails oder SMS vor dem Schlafen oder am Wochenende, beziehungsweise begrenzen Sie die Zeiten strikt.
  14. Erlernen Sie ein Entspannungstraining (zum Beispiel Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Yoga, Meditation), um Ihre Anspannung insgesamt auf ein niedrigeres Niveau zu reduzieren. Das gibt Ihnen Puffer für die stressigen Phasen und hilft Ihnen durch die Techniken, einfacher und schneller abzuschalten.

Wählen Sie eine Strategie, und erproben Sie diese über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Erinnern Sie sich täglich daran: per Symbol (Stopp-Schild auf dem Schreibtisch, Foto am Garderobenspiegel) und/oder per Notiz in Ihrem Kalender. Reflektieren Sie, ob Sie die Strategie regelmäßig eingesetzt haben, was Sie eventuell daran gehindert hat und ob Sie hilfreich war. Je nachdem bleiben Sie bei der Methode oder wählen und probieren eine neue. Seien Sie kritisch mit den vermeintlichen Hindernissen. Sie wissen ja, Aussagen wie »Das geht nicht«, »Es geht nur so und nicht anders«, »Ich habe keine Wahl« lasse ich nicht gelten. Es gibt immer andere Optionen. Diese mögen weder ganz leicht noch unbeschwert sein und erfordern oftmals Mut. Die Klarheit darüber, was Ihnen wirklich wichtig ist im Leben, wie Sie also Ihre Prioritäten setzen, hilft Ihnen dabei. Besser abzuschalten ist also eine Entscheidung, die Sie treffen, und erfordert Disziplin!

Lars, ein Topmanager, hatte größte Schwierigkeiten, am Abend und am Wochenende abzuschalten, weil er die unerledigten Aufgaben aus dem Büro mit nach Hause nahm, um sie da abzuarbeiten. Er hatte fast keine freien Zeiten zur Erholung und fühlte sich immer stärker erschöpft. Ihm war völlig klar, dass es ihm besserginge, wenn er die Arbeit in der Firma lassen und am Abend Sport treiben oder Freunde treffen würde. Warum tat er es dann nicht? Er glaubte, dass es nicht anders ginge, dass seine Position volles Engagement fordere und er die Aufgaben anders nicht bewältigen könnte. Seine Ansprüche und Glaubenssätze sowie Ängste vor negativen Konsequenzen trieben ihn weiter an, und er konnte kaum mehr einen anderen Blickwinkel annehmen.

Ein paar Monate später kam der Zusammenbruch. Er weinte, hatte keine Kraft mehr, fühlte sich durch Kleinigkeiten überfordert. Zunächst schleppte er sich noch zur Arbeit, doch bald ging auch das nicht mehr. Ich schrieb Lars krank und wies ihn in eine Klinik ein. Er wurde also gezwungenermaßen aus seiner Arbeit herausgezogen. Selbst in der Klinik schrieb er noch Mails und beantwortete Telefonate.

Er erholte sich innerhalb von sechs Wochen jedoch so weit, dass er wieder im Beruf einsteigen konnte. Dort hatte sich natürlich während seiner Abwesenheit nichts verändert, und er war sehr schnell wieder im selben Trott. Zu diesem Zeitpunkt begriff er immer noch nicht, dass er zwingend Erholungsphasen braucht und dass es sich bei seiner Tätigkeit letztlich nur um einen Job handelt, der es nicht wert sein kann, seine Gesundheit nachhaltig zu gefährden. Nach ein paar weiteren Wochen stand Lars wieder vor einem Zusammenbruch: Er begann in Meetings zu weinen, konnte nicht mehr schlafen, war innerlich so unruhig, dass er kaum noch sitzen konnte und ständig den Drang verspürte herumzulaufen. Seine Konzentrationsfähigkeit war stark eingeschränkt. Er fand sich in derselben Situation, die er ja schon einmal hatte, wieder.

Nun begriff er, dass sich etwas ändern musste, und zwar dass er sich ändern musste. Die Umstände würden gleich bleiben. Er reichte acht Wochen Urlaub ein, nahm also seinen Jahresurlaub und den Urlaub, den er vom letzten Jahr noch aufgeschoben hatte. Er ließ sich zwei Wochen Vorbereitungszeit, bis die Auszeit begann. Währenddessen organisierte er Vertretungsstrukturen und Notfallpläne. Nur ein einziger Kollege bekam seine Privathandynummer für den absoluten Notfall. Das Diensthandy schaltete er aus. In den acht Wochen las er keine E-Mail und wurde nie wegen eines Notfalls angerufen. Die Firma überlebte seine Abwesenheit, und es entstand kein finanzieller Schaden für das Unternehmen, was er im Vorfeld sehr befürchtet hatte. Er wurde weder gekündigt noch seiner Position enthoben. Er erlebte, dass er, genauso wie wir alle, im Beruf ersetzbar ist. Das hören wir zwar ungern, weil es uns narzisstisch kränkt, aber ja, wir alle sind im Beruf ersetzbar.

Durch diese Erfahrung gelang es ihm auch in den folgenden Urlauben und Wochenenden, das Smartphone auszuschalten und insgesamt eine deutlich größere Distanz zum Job herzustellen. Mit der Zeit und mehr Abstand kamen ihm immer größere Zweifel, wie er nur glauben konnte, dass es keine andere Option gäbe, wie er nur so viel Zeit und seine Gesundheit für ein Unternehmen, das ihm nicht einmal gehörte, hatte opfern können. Er bringt nun viel mehr Mut und Disziplin auf, Nein zu sagen gegenüber anderen und sich selbst. Er gewinnt Freiheit, Selbstbestimmung und Gesundheit, weil er wieder angemessen für sich selbst sorgt und aktiv Zeit fürs Abschalten einplant.

Für mich persönlich stellt das Abschalten eine große Herausforderung dar. Meine beste Freundin und mein Partner sind mit zentralen Rollen in meine Selbstständigkeit involviert, Privates und Berufliches mischen sich also stark. Fast alle Themen, mit denen ich mich während der Arbeit beschäftige, entsprechen meinen persönlichen Interessen, und so fällt es mir manchmal schwer, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Obwohl mir meine Arbeit sehr viel Kraft und Energie gibt, brauche ich dennoch regelmäßig Distanz, einen anderen Blickwinkel, um frisch und motiviert Projekte anzugehen. Vernachlässige ich dies, komme ich in die bereits geschilderte Situation, dass ich nur noch hetze, die Aufgaben nur noch abhaken will und mich unausgeglichen fühle. Um dem vorzubeugen, räume ich mir im Kalender als wichtige Termine grün markiert »Auszeiten« ein. Da treffe ich mich mit Freunden und rede mit ihnen über andere Themen, gehe ins Kino oder zur Massage. An freien Tagen oder Wochenenden fahren mein Partner und ich in unserem VW-Bus raus ins Grüne oder Blaue. Was anderes zu sehen hilft mir sehr beim Abschalten und »Runterkommen«. Sobald ich in unserem Genussbus sitze, so heißt er wirklich, »entschleunige« ich. Am wichtigsten wurde mir mein Ritual, zwei- bis dreimal pro Woche in der Früh zu joggen und währenddessen Achtsamkeitsübungen zu machen. Ich höre bewusst keine Musik dabei, sondern konzentriere mich auf den Geruch, die Geräusche und das, was ich sehe. Ich genieße die Natur und bekomme einen freien Kopf. So habe ich schon am Beginn des Tages etwas für mich getan.

Nach drei Jahren Homeoffice bin ich außerdem für die Arbeit in mein Büro gezogen; das war ein sehr hilfreicher Schritt, um abends leichter abzuschalten. Ich lasse mittlerweile oft meinen Laptop dort, was für mich lange unvorstellbar war. Am Abend im Bett mache ich meine Dankbarkeitsübung, und wenn sich dennoch Sorgen melden oder ich ins Grübeln gerate, dann stelle ich mir die bereits erwähnte Frage: »Wie wichtig ist das wirklich (www)?«, und die Antwort lautet meist: »Weder lebensbedrohlich für mich und andere, noch wird die Welt davon untergehen.«

Eine Situation aus meiner Klinikzeit ist mir stark in Erinnerung geblieben und hilft mir noch heute. In der Frühbesprechung in der Neurologie sah ich das Kernspinbild des Gehirns einer mit mir auf den Tag gleich jungen Frau, und es war völlig klar, dass sie in ein paar Tagen sterben würde, ohne je das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich nahm diese Geschichte mit nach Hause, sie hing mir noch lange nach, und es war schwer für mich abzuschalten. Die andere Seite der Medaille: Das Schicksal dieser jungen Frau erinnert mich seither daran, dass das Leben endlich ist und überraschend schnell vorbei sein kann. Wie wichtig erscheinen im Angesicht dieses Schicksals die unerledigte To-do-Liste oder eine anstehende, herausfordernde Aufgabe? Eine traurige Begebenheit, die mir jedoch hilft, die nötige Zeit und den nötigen Raum zum Abschalten zu schaffen.

[Selbstreflexion Anfang]

Welche Strategie möchte ich in meinen Alltag integrieren, um besser abzuschalten?

Wie will ich mich daran erinnern? Womit beginne ich konkret morgen?

[Selbstreflexion Ende]


[1]Techniker-Krankenkasse, a. a. O.

[2] DAK-Gesundheitsreport 2017 (DAK-Erwerbstätigenbefragung 2016), https://www.dak.de/dak/gesundheit/dak-gesundheitsreport-2017-1887058.html, abgerufen am 5.9.2018

[3] Wendsche, J./Lohmann-Haislah, A.: »A Meta-Analysis on Antecedents and Outcomes of Detachment from Work«, Frontiers in Psychology 7, 2016, S. 2072

[4] Atchley, Ruth Ann/Strayer, David L./Atchley, Paul: »Creativity in the Wild: Improving Creative Reasoning through Immersion in Natural Settings«, PLoS One 7 (12), https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0051474, abgerufen am 4.10.2018

[5] De Bloom, Jessica/Geurts, Sabine A. E./Kompier, Michael A. J.: »Vacation (after-)effects on employee health and well-being, and the role of vacation activities, experiences and sleep«, Journal of Happiness Studies 14 (2), 2013, S. 613–633

[6] Storm, Andreas (Hg.): Gesundheitsreport 2017. Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 16). Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Update: Schlafstörungen, Hamburg, März 2017, https://www.dak.de/dak/download/gesundheitsreport-2017-1885298.pdf, abgerufen am 5.9.2018

[7] Techniker-Krankenkasse, a. a. O.

Comments are closed.