Frau lächelt in die Kamera

Mein Interview mit FOCUS Online

Konkrete Tipps und Maßnahmen, die uns einfacher durch die Krise führen

FOCUS Online: Frau Reichhart, viele kennen auch ohne Krise den „Novemberblues“. Wie sehr intensivieren die landesweiten Corona-Einschränkungen dieses Gefühl noch?

Tatjana Reichhart: Die Stimmung ist natürlich besonders gedrückt, weil wir einfach schon sehr lange mit diesem Thema konfrontiert sind. Corona hat im Frühjahr viele an die Belastungsgrenze gebracht. Es gab ein bisschen Pause im Sommer. Doch jetzt, wo es wieder so massiv zurückkommt, trifft es viele in einem Zustand, in dem ihre Ressourcen, also ihre Kraftquellen ziemlich erschöpft sind. 

Noch dazu ist es gekoppelt mit einer Jahreszeit, in der eben viele den üblichen Novemberblues kennen, weil wir wenig Sonne haben, weniger rausgehen und dadurch zum Beispiel weniger Vitamin D bekommen. Schwierig ist nun vor allem, dass durch die Kontaktbeschränkungen die ausgleichenden sozialen Tätigkeiten wie zusammen ins Kino, in eine Ausstellung oder Essen gehen wegfallen. Gerade Menschen, die alleine leben und ihre Energie beispielsweise aus sozialen Kontakten im Verein oder ehrenamtlichen Engagements ziehen, sind jetzt extrem eingeschränkt. Ähnlich schwierig ist es für die Familien, die sowieso schon belastet sind. Sie finden sich jetzt mit ihrem bereits leeren Akku in einer schweren Zeit wieder. 

Genau, denn Kollegen von Ihnen warnten schon davor, dass auch an sich psychisch stabile Menschen nun stark zu kämpfen haben. Das heißt, der zweite Lockdown trifft uns bereits jetzt schwerer als der erste?

Reichhart: Von der psychischen Seite her definitiv, weil einfach davor so viel gewesen ist. Wir können uns das so vorstellen, dass wir eine Art Seelen-Buchhaltung haben – mit Soll und Haben. Wenn wir dann unterm Strich gerade schon im orangen Bereich landen, stellt sich für viele tatsächlich die Frage, woher sie jetzt ihre Energie bekommen sollen.

Welchen Rat haben Sie für diejenigen?

Reichhart: Erst einmal hilft es, sich klar zu machen: Wir Menschen sind unglaublich widerstandsfähig und haben einen großen Überlebensinstinkt. Wir schaffen es mit den widrigsten Bedingungen umzugehen, sonst wären wir längst ausgestorben. Wir haben schon schrecklichere Erkrankungen bewältigt, also werden wir auch Corona meistern. Ähnlich wie wir inzwischen mit HIV, Ebola, Influenza oder Tuberkulose leben. Dann ist es wichtig, dass wir nicht in der Stagnation, also in der Frustration, dass alles so schlimm ist, verharren. Stattdessen müssen wir jetzt den Fokus auf das legen, was wir beeinflussen können. Denn das stärkt unsere Widerstandsfähigkeit, die wir Resilienz nennen.. Jeder sollte schauen, was er für sich tun kann, um die Zuversicht nicht zu verlieren.

Können wir das noch konkreter fassen? Was können wir denn jetzt genau in diesem Novemberblues machen, um die Zuversicht nicht zu verlieren?

Reichhart: Kleine Übungen können tatsächlich nachhaltig die Stimmung positiv beeinflussen und damit letztendlich unsere Akkus aufladen. Das zeigen Studien aus der positiven Psychologie und der Resilienzforschung.

Konkret wäre das zum Beispiel, dass ich nicht mit den schlechten Dingen im Kopf ins Bett gehe, darüber nachdenke, was heute alles nicht geklappt hat, wie schrecklich es mit den Kindern war, wie furchtbar die Arbeit, wie schlimm die Corona-Zahlen jetzt mit Gebiet sind. Sondern, dass ich mich, bevor ich ins Bett gehe, hinsetze und mir überlege: Was lief heute gut? Welche schönen Momente habe ich erlebt? Das kann ich sogar mit meinem Partner machen, mit den Kindern beim Abendessen oder auch in virtuellen Teams. Legen Sie den Fokus bewusst aufs Positive. Erinnern Sie sich etwa an drei schöne Dinge, die Sie heute gesehen haben. Da genügen Kleinigkeiten wie vielleicht ein schönes Laubblatt, ein kurzer Sonnenstrahl oder etwa ein Eichhörnchen auf dem Balkon.

Unser Gehirn soll friedlich einschlafen können. Sprich, wir müssen ihm Zeit zur Entspannung geben und Abstand einbauen von schlechten Nachrichten, die es in Alarmbereitschaft versetzt. Da helfen positive Rituale am Abend wie, dass ich einen Roman lese, der ein ganz anderes Thema hat oder dass ich ein Bad nehme und oder dass ich eine halbe Stunde spazieren gehe. Ich kann daraus einen Vergnügungspaziergang machen, nämlich mit dem Ziel: Ich sammle so viele schöne Momente ein, wie nur möglich. Ich richte meine Aufmerksamkeit bewusst auf den Geruch der feuchten Wiesen, auf das, was ich höre, die Tiere, die ich sehe. Ich nehme also ganz bewusst die positiven Dinge wahr. Das sind die kleinen Dinge der Selbstfürsorge. Sie helfen uns unser Gehirn zu beruhigen und langfristig, unseren Optimismus zu stärken. Das ist das Wichtigste, gerade in Zeiten, wo so viel unbeeinflussbar ist.

… ein gutes Stichwort. Viele Menschen fühlen sich derzeit sehr fremdbestimmt und eingeschränkt.

Reichhart: Richtig. Doch das Jammern über Dinge, die wir nicht ändern können, verbraucht unglaublich viel Energie. Es stärkt uns dagegen, wenn wir uns auf das konzentrieren, was wir unter Kontrolle haben. Selbstwirksamkeit nennt man das. Statt sich also stundenlang damit zu beschäftigen, dass man jetzt nicht mehr Essen gehen kann, sollte man überlegen: Kann ich mir was bestellen oder was Schönes selbst kochen? Mit wem kann ich mich draußen persönlich zum Quatschen treffen?

Das heißt, jeder sollte in seinem Alltag schauen, wo er etwas selbst in der Hand hat?

Reichhart: Genau. Das können ganz kleine Sachen sein. Zum Beispiel, dass ich den Keller ausräume oder meinen Schrank ausmiste. Es ist immer besser etwas zu tun, als in der Opferrolle oder Passivität zu verharren.

Was ist aber, wenn ich abends einfach erschöpft auf der Couch sitze und mich zu nichts mehr aufraffen kann?

Reichhart: Vielleicht ist dann einfach mal das Nichtstun das Richtige. Aus psychologischer und physiologischer Sicht ist es in dem Moment das Sinnvollste ins Bett zu gehen. Wenn ich schon so erschöpft bin, dass ich nichts anderes mehr machen kann, sagt mir mein Körper: Ich brauche jetzt echte Erholung. Bevor ich irgendwas mache oder stundenlang Netflix schaue, schlafe ich besser.

Nach acht Stunden Schlaf bin ich definitiv wieder dickhäutiger, widerstandsfähiger, kann viel mehr aushalten und bin weniger gestresst. Dass guter Schlaf einer der wichtigsten Faktoren für psychische Stabilität und Gesundheit ist, vergessen ganz viele Menschen. Darum ist schlafen das Erste, um dauerhaft belastbar zu bleiben. Das Zweite sind tatsächlich soziale Kontakte.

Die wir aber gerade sehr einschränken sollen…

Reichhart: Natürlich kann ich momentan nicht alle Freunde auf einmal sehen, aber ich kann noch eine halbe Stunde mit jemanden telefonieren, wenn ich zum Beispiel alleine bin oder wenn man in der Partnerschaft ist, sitzt man vielleicht einfach nur gemeinsam auf dem Sofa, um sich körperlich nahe zu sein und darüber Oxytocin auszuschütten. Das sogenannte Kuschelhormon reduziert Stress. Oder ich schreibe eine nette Nachricht an einen Freund, um ihm zu sagen, dass ich an ihn denke. Alles, was mit sozialer Verbundenheit zu tun hat, baut uns emotional auf. Ich kann auch alte Fotos anschauen oder Briefe lesen, sodass ich meine Verbundenheit mit anderen spüre. Das schaffe ich vielleicht sogar am Abend.

Allerdings ersetzen virtuelle Kontakte oder Fotos anschauen ja doch keine Umarmung. Was hilft denn dann?

Reichhart:  Nun, grundsätzlich dürfen wir ja einen anderen Menschen treffen und diesen einen Menschen auch umarmen. Natürlich sollten sich alle überlegen, wen oder wie viele verschiedene Menschen sie umarmen. Dennoch sollten wir das jetzt nicht übervorsichtig handhaben, sondern gegen andere seelische Schäden abwägen.

Wenn mich jetzt wirklich gerade heute Abend niemand in den Arm nehmen kann, kann ich mich selbst umarmen. Das klingt total komisch, aber der Körper lässt sich austricksen. Wenn wir uns streicheln oder unsere Hand auf unser Herz legen oder den Bauch, wird genauso Oxytocin ausgeschüttet. Wir können uns noch mehr Gutes tun, das körperliche Wärme und Nähe schenkt. Da reicht schon ein ganz weicher Bademantel oder eine warme Dusche. Vielleicht sogar noch wichtiger ist, dass wir gut in Gedanken zu uns sind.

Das heißt?

Reichhart: Dass wir uns zum Beispiel mal sagen, dass es echt gerade eine schwierige Zeit ist und uns selbst loben: Mensch, das machst du aber gut. Wir kommen da durch. Schließlich haben wir schon ganz andere Situationen geschafft. Und nun denken wir erst einmal über die Lösung für den nächsten Tag nach.

Es hilft also, dass wir nicht den ganzen November oder den ganzen Winter als lange, dunkle Zeit betrachten?

Reichhart: Am besten ist es tatsächlich nur auf den heutigen Tag zu schauen. Was kann ich heute tun? Lange Planungen sind gerade sowieso nicht sinnvoll. Das ist letztlich ein ganz großes Potenzial, dass wir das jetzt so erleben und wir wirklich Im Moment sind.

Andererseits wirft man der Politik genau das oft vor, dass sie von heute auf morgen agieren und keinen langfristigen Plan haben.

Reichhart: Natürlich. Evolutionsbiologisch mögen wir Menschen keine Unsicherheiten. Denn per se sind wir eigentlich sehr faul gewesen. Also wir wollen Energie sparen, weil ja schlechtere Zeiten kommen könnten, für die ich meine Energiereserven brauche. Dennoch können wir sehr gut lernen, mit der Unsicherheit zu leben.

Nämlich wie?

Reichhart: Indem wir uns auf das hier und jetzt fokussieren: Es ist, wie es ist, es kommt, wie es kommt. Menschen können allerdings unterschiedlich gut mit Unsicherheiten umgehen. Manche hatten vielleicht schon häufiger mit dem Thema Unsicherheit und Angst zu tun, sodass sich auch Angststörungen entwickeln können.

Woran merke ich, dass ich vielleicht professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen sollte?

Reichhart: Wenn ich das Gefühl habe, ich habe die Kontrolle verloren und kann das nicht mehr steuern. Wenn ich merke, dass ich wirklich Einschränkungen in meinem Alltag habe. Also, wenn ich zum Beispiel feststelle, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren kann, weil ich nur noch Sorgen habe. Oder Zwänge entwickle wie, dass ich ständig kontrollieren muss, ob der Herd abgestellt, der Strom aus ist oder die Fenster zu sind. Wenn die Selbstregulationsfähigkeit zusammenbricht und ich meine Ängste nicht mehr regulieren kann, wird es kritisch.

Was sollten die Betroffenen dann tun?

Reichhart: Als erstes sollten sie mit ihrem Hausarzt sprechen. Denn er kann abklären, ob eventuell eine körperliche Ursache vorliegt. Das können etwa ein Mangel an Schilddrüsenhormonen oder Vitamine D sein. Im nächsten Schritt können Psychotherapeuten helfen.

Allerdings scheuen sich nach wie vor viele Menschen über ihre seelischen Probleme zu sprechen.

Reichhart: Ja, dieses „Stell‘ dich doch nicht so an!“ ist oft noch in unseren Köpfen. Hier hilft es, sich zu überlegen: Wenn jemand 41 Fieber hat, kommt auch niemand auf die Idee zu sagen, das ist nicht so schlimm und derjenige soll sich nicht so anstellen. Wenn bei psychischen Problemen die Botenstoffe im Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten, ist das genauso eine körperliche Reaktion. Sie lässt sich zwar nicht so messen wie mit dem Fieberthermometer. Aber unser Körper schickt uns Warnzeichen wie unruhigen Schlaf, Appetitlosigkeit oder Magenschmerzen und zeigt uns so, dass unser Akku leer wird.

Herr Spahn nannte die Zeit, den November der Entschleunigung. Nun gibt es aber die einen, die gezwungenermaßen entschleunigt sind, wie Menschen im Kulturbereich oder Gastronomen und die anderen wie Ärztinnen, Pfleger, Verkäuferinnen oder Paketzusteller, die umso mehr Stress haben. Was können sie in Sachen Selbstfürsorge jeweils für sich tun, damit der Akku nicht leer wird? 

Reichhart: Es heißt ja nicht, dass es dem „zwangs-entschleunigtem Gastronom“ besser geht als den anderen. Da können besondere Existenzängste entstehen. Aber grundsätzlich: alle Menschen brauchen, wie vorhin besprochen, Schlaf und soziale Kontakte. Extrem wichtig sind außerdem Sport und Bewegung, um Stresshormone zu reduzieren und positive Botenstoffe auszuschütten.

Ganz grundsätzlich wäre es hilfreich, wenn wir nicht in Gruppen denken würden. Stattdessen sollten wir sagen: Wir sind alle jetzt in dieser Situation und jeder hat jetzt sein eigenes Päckchen zu tragen. Indem wir das verstehen, können wir uns am besten verbinden. Wenn wir freundlich miteinander umgehen, hilft das allen. Alle dürfen dieselbe Fürsorge bekommen, von sich selbst wie von außen.

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