Tatjana Reichart beim Coaching mit Klientin

Warum Selbstliebe so wichtig ist und wie sie im Alltag integriert werden kann.

Dr. med. Tatjana Reichhart

Wieso beschäftigen wir uns gerade alle mit den Themen Stressmanagement, Resilienz, Achtsamkeit und nun auch Selbstfürsorge? Weil wir uns – und das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung und die aus meiner Arbeit mit Klientinnen und Coachees – subjektiv gestresst, unter Druck und gehetzt fühlen und uns im permanenten Zeitdruck und Optimierungswahn befinden.

Nach einer aktuellen Befragung von Procter & Gamble unter berufstätigen Müttern, geben zwei Drittel an, immer 120 Prozent geben zu wollen. Sieben von zehn wollen stets alles perfekt machen, wobei fast jede zweite Befragte ständig ein schlechtes Gewissen hat, Familie, Partner und Freunde zu vernachlässigen. Jede zweite berufstätige Mutter erledigt die Sachen lieber selbst, als mit dem Partner darüber zu verhandeln[1]. Und repräsentative Umfragen der Techniker Krankenkasse und der PronovaBKK unter deutschen Arbeitnehmern zeigen kein entspannteres Bild: mehr als 60 Prozent fühlen sich oft gestresst.[2] 

Perfektionismus – wenn alles perfekt sein muss

Die Hälfte der Beschäftigten schätzt sich selbst als mäßig bis hoch Burnout-gefährdet ein und klagt über körperliche und psychische Beschwerden. Zum Ausgleich schauen die Befragten hauptsächlich fern oder surfen im Internet.[3] Jeder Dritte trinkt Alkohol, um »runterzukommen«. Das Thema Selbstfürsorge ist also relevant, weil wir offensichtlich verlernt haben gut für uns zu sorgen.

Dabei gibt es hilfreiche Möglichkeiten, sich vorbeugend um seine seelische Gesundheit zu kümmern. Wir lassen uns impfen, damit unser Körper mit bestimmten Erregern leichter fertig wird, putzen Zähne um Karies zu vermeiden und waschen uns die Hände, um keine Keime zu übertragen. Wir können uns auch seelisch „pflegen“! 

Lernen mit Stress umzugehen

Wie geht das und warum ist das so wichtig? Gut für sich zu sorgen ist die Basis, um den Belastungen und Anforderungen des Lebens standhalten zu können. Sie steht zwischen den Extremen »Aufopferung/Ausbrennen« und »Egoismus«. Indem wir gut für uns sorgen, uns und unsere Bedürfnisse wahr- und wichtig nehmen, stärken wir unsere Widerstandsfähigkeit. Selbstfürsorge bedeutet die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und zu erkennen, wo wir frei und handlungsfähig sind um dementsprechend unser Leben bewusst und aktiv zu gestalten. Die Basis dazu ist die Selbstreflexion; also über uns, unsere Bedürfnisse und unsere – sich widerholende- Verhaltensmuster und daraus entstehende Konsequenzen nachzudenken und darüber, wie wir unser Leben gestalten wollen, was uns wirklich wichtig ist und wer wir sein wollen. 

Stress verhindern, Burnout vermeiden

Wenn wir uns nicht oder nicht ausreichend genug um uns kümmern, dann nehmen die Stressoren, die Energieräuber, die Belastungen überhand und unser „Energiehaushalt“ gerät aus der Bahn oder -in einem anderen Bild gesprochen- unser Fass läuft über, wir erschöpfen uns, werden unzufrieden, deprimiert und im ungünstigsten Fall sogar krank. Häufig bemerken wir zunächst, dass wir uns fremdbestimmt, gehetzt und unausgeglichen fühlen. Oft haben wir das Gefühl, dass es nicht anders gehe und wir keine Alternative hätten. Unsere Wahrnehmung engt sich also ein. Unser Körper und unsere Psyche sind die besten Signalgeber: wenn wir drohen aus dem Gleichgewicht zu geraten schicken sie uns Warnzeichen, wie Kopfschmerzen, Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Nervosität, Unaufmerksamkeit oder Gereiztheit, um nur einige zu nennen. 

Mama schläft aus und nimmt sich Zeit für sich selbst
„Morgen früh übernimmst du die Kinder!“ Feste „Ausschlaftage“ sorgen rhythmisch für etwas Auszeit.

Was hält uns dann davon ab, gut für uns zu sorgen, wo es doch so wichtig ist? Jeder Mensch hat seine oder ihre eigenen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die häufigsten Hindernisse zur guten Selbstfürsorge liegen aber meist in einem der folgenden Bereiche: 

»Ich weiß nicht, was mir guttut und warum das wichtig sein soll!« – Sie kennen ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht (mehr).

»Mich um mich selbst zu kümmern ist doch egoistisch!« – Sie befürchten, zu ichbezogen zu sein.

»Ich darf nicht! oder Erst die Arbeit dann das Vergnügen« – Sie haben hinderliche Glaubenssätze und innere Antreiber, bei deren Missachtung ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle auftreten.  

»Alles andere ist wichtiger als ich!« – Sie setzen die falschen Prioritäten.

Und: »Ich habe keine Zeit für mich!« – Sie setzen die Prioritäten falsch und haben gelichzeitig ein ungünstiges Zeitmanagement bzw. wollen zu viel in der verfügbaren Zeit.

Der erste Schritt zu einem selbstfürsorglichen, selbstbestimmten und guten Leben ist es zu identifizieren, was Sie persönlich davon abhält, gut für sich zu sorgen. 

Raus aus den alten Mustern

Dabei lohnt es sich, die eigenen Glaubenssätze zu überprüfen und zu hinterfragen, um schließlich neue Verhaltensweisen auszuprobieren. So könnte jemand, der aus Perfektionsansprüchen heraus bisher immer auch die Bettwäsche bügelt oder bevor die Gäste kommen, das ganze Haus putzt, und sich aber eigentlich unter Zeitdruck fühlt, genau diese Tätigkeiten reduzieren und eventuell auch ganz weglassen. Das wird am Anfang mit einem unwohlen Gefühl, vielleicht sogar Schuldgefühl oder schlechtem Gewissen, begleitet. Denn auf dem Weg aus der eigenen Komfortzone heraus steht eine Türsteherin und die heißt „Angst“ oder „Sorge“. Es gilt trotzdem weiterzugehen und anderes Verhalten auszuprobieren und zu erleben, dass sich dieses zunächst unangenehme Gefühl mit der Zeit und ein paar Wiederholungen in ein freieres, selbstbestimmteres Gefühl wandelt. 

Gesunder Egoismus: Denken Sie auch an sich!

Das selbe Prinzip gilt auch für die hinderlichen Gedanken „Alles andere ist wichtiger als ich“,  „Ich habe keine Zeit für mich“ und „Selbstfürsorge ist doch egoistisch“. Auch diese Gedanken sollten Sie hinterfragen. Selbstfürsorge ist nicht egoistisch. Im Flugzeug bei Druckabfall, setzen Sie ja auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske auf, bevor Sie dem Sitznachbarn helfen. Und unser Herz versorgt erst sich selbst mit sauerstoffhaltigem Blut bevor es die anderen Organe versorgt. Nur wenn es Ihnen einigermaßen gut geht, können Sie auch für andere Menschen gut sorgen. Oder haben Sie nicht schon mal mit jemandem gestritten, weil Sie hungrig waren, Ihrem Bedürfnis zu essen nicht nachgekommen sind und dann grantig einen Streit vom Zaun gebrochen haben? Wenn wir uns selbst genug gönnen, sind wir auch anderen gegenüber weniger neidisch und missgünstig. Oder haben wir nicht schon mal nach einem langen Tag, gestresst und nicht auf unser Erholungsbedürfnis achtend zu Hause mit unserem Partner gestritten, weil die Wäsche noch nicht aufgehängt oder die Spülmaschine noch nicht eingeräumt war, während er schon vor dem Fernseher saß? Sorgen wir gut für uns, werden wir insgesamt zufriedener und ausgeglichener und sind damit auch für andere eher eine Freude und unterstützend.  

Reminder setzen für das Unterbewusstsein

Nachdem Sie sich mit Ihren Hindernissen auseinandergesetzt, Ihre Prioritäten kennengelernt haben und wissen, was Ihnen wirklich wichtig ist im Leben – zum Beispiel, dass es Ihnen gut geht- , sollten Sie eine klare Entscheidung treffen: für sich und Ihre Selbstfürsorge. Eine solche Entscheidung könnten Sie mit Erinnerungs-Symbolen verankern, um sich auch im Alltag daran zu erinnern. Zum Beispiel ein Foto am Schminkspiegel, ein bestimmter Bildschirmschoner am Smartphone, eine Verbündete, die Sie an Ihr Vorhaben erinnert oder der Eintrag zur Selbstreflexion im Terminkalender. Hauptsache, Sie installieren Erinnerungshilfen, für unser Unterbewusstsein sind dies hilfreiche Wegweiser. Denn sonst vergessen Sie Ihre guten Vorhaben und werden eher darüber frustriert, schon wieder etwas nicht „geschafft“ zu haben. 

Selbstfürsorge in den Alltag integrieren

Wenn Sie so weit sind, haben Sie mehr als die Hälfte geschafft. Nun könne Sie sich aus einer Reihe von „Meilensteinen“, diejenigen aussuchen, die für Sie leicht im Alltag integrierbar sind. Die Meilensteine sind die Kompetenzen, die den Weg zu unserer Selbstfürsorge und damit persönlichen Widerstandsfähigkeit säumen. Dazu gehört es beispielsweis die eigenen Bedürfnisse zu spüren, ernst zu nehmen um dementsprechend zu handeln. Oder die eigenen Kraftquellen (Ressourcen) zu kennen und auszubauen, als wären wir Bäume und würden unser Wurzelwerk pflegen und aktiv wachsen lassen. Zum Beispiel indem wir auf ausreichend Schlaf und körperliche Bewegung achten. Ein wichtiger Meilenstein ist realistischer Optimismus. Diesen können Sie trainieren, indem Sie sich in Dankbarkeit üben. Zählen Sie jeden Abend an Ihren 10 Fingern ab, wofür Sie heute dankbar sind. Dies lenkt Ihre Gedanken von den „To do´s“ zu den „I have´s“. Üben Sie sich in Achtsamkeit indem Sie sich immer mal wieder fragen, wie es Ihnen im Moment geht, welche Bedürfnisse im Moment haben, was Sie im hier und jetzt erleben (zum Beispiel sehen, riechen, hören, fühlen, schmecken…). Wir wissen aus der Wissenschaft, dass wir so ein stärkeres Gefühl von Selbstbestimmung gewinnen und uns weniger fremdgesteuert und gehetzt fühlen. Unser Steuerzentrum im Gehirn wird aktiviert und wir reagieren nicht mehr so automatisch, sondern können unsere Handlungen wieder besser regulieren.

Raus aus der Komfortzone

Außerdem lohnt es sich die eigene Selbstverantwortung zu stärken, indem wir unsere Komfortzone immer mal wieder verlassen und Dinge tun, die wir nicht gewohnt sind. Dadurch erwerben wir einen viel größeren Handlungsspielraum und sind gewappnet, wenn es tatsächlich mal Veränderungen in unsrem Leben gibt. Wir haben dies nun ja schon trainiert und wissen, dass wir auch Neues bewältigen können. Ein weiterer zentraler Meilenstein auf dem Weg zum guten, selbstfürsorglichen Leben ist es die eigenen soziale Beziehungen zu pflegen und sich in sozialem Verhalten zu üben. Denn Selbstfürsorge schließt das Engagement für andere explizit in einem ausgewogenen Maße ein. Wenn wir anderen Menschen helfen – ohne Gegenleistung zu erwarten-, anderen etwas Gutes tun, und sie unterstützen, tut uns das selbst gut. Sogar auf neurobiologischer Ebene: wir schütten Botenstoffe und Hormone aus, die uns besser mit Stress umgehen lassen und die uns Wohlgefühl schenken. Selbstfürsorge ist also alles andere als egoistisch.         

Es ist ein sehr schönes, lebenslanges Projekt gut für sich zu sorgen, macht Spaß und bringt Freude für Sie und Ihre Mitmenschen! Also starten Sie noch heute.


[1] Procter & Gamble: Working Mom Studie 2017: Jede dritte Mutter fühlt sich alleinerziehend trotz Partner, https://www.presseportal.de/pm/13483/3622154, abgerufen am 12.9.2018

[2] Techniker-Krankenkasse: Entspann dich, Deutschland – TK-Stressstudie 2016, https://www.tk.de/resource/blob/2026630/9154e4c71766c410dc859916aa798217/tk-stressstudie-2016-data.pdf, abgerufen am 2.10.2018

[3] PronovaBKK: Betriebliches Gesundheitsmanagement 2018. Ergebnisse der Arbeitnehmerbefragung, Februar 2018, https://www.pronovabkk.de/downloads/ae740f1f69ccabf0/pronovaBKK_BGM_Studie2018.pdf, abgerufen am 2.10.2018

Selbstfürsorge hat viele Gesichter. Ein Morgenspaziergang an der frischen Luft ist ein guter Start in den Tag und rückt den Fokus auf die schönen Dinge des Lebens.
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