Wie wir Verantwortung für uns übernehmen, gelassen und frei leben.

Tatjana Reichart liest ihr Buch zum Thema Selbstfürsorge
Das Buch „Das Prinzip Selbstfürsorge“ zeigt Tipps und Methoden, um die Herausforderungen des Alltags einfacher zu meistern.
© andreamuehleck.com

Everett Worthington war fünfzig Jahre alt, als er und sein Bruder Mike ihre Mutter in ihrer Wohnung vergewaltigt und ermordet auffanden. Everett, der bereits als Psychologe arbeitete, begann nach diesem schrecklichen Erlebnis, über das Konzept der Vergebung zu forschen.[1] Er lernte schließlich, dem Mörder seiner Mutter zu vergeben (was natürlich kein einfacher und schneller Prozess war). Sein Bruder litt derart unter diesem Erlebnis, dass er sich neun Jahre später das Leben nahm. Everett fühlte sich nun schuldig am Tod seines Bruders und erweiterte seine Studien auf die Frage, wie wir uns selbst vergeben können. Für ihn ist der Schlüssel zur Bewältigung der Vergangenheit die Vergebung.

Befreiung durch Vergebung

Hass, Rachegelüste und Vergeltungswünsche beziehen sich auf bereits Geschehenes und halten uns gedanklich und emotional in der Vergangenheit fest. Was entsteht, ist Verbitterung. Um den Weg für die Zukunft frei zu machen und um die Gegenwart zu erleben, müssen wir also Rache und Vergeltungswünsche loslassen. Vergebung bedeutet dabei keineswegs, die Tat zu billigen, den Täter in Schutz zu nehmen oder ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen. Vergebung bedeutet vielmehr, sich selbst von den eigenen zermürbenden Gefühlen von Rache und Feindseligkeit zu befreien und die unabänderliche Vergangenheit zu akzeptieren. Es erscheint vielleicht unvorstellbar, dass ein Vater im Gerichtssaal dem Mörder seiner Tochter vergibt. Für den Vater bedeutet es dennoch Loslassen und Befreiung.

Depressionen durch Zorn und Hassgefühle

In unserem Alltag finden wir uns immer wieder in Situationen, in denen wir gekränkt und verletzt werden. Es muss sich dabei gar nicht um traumatisierende Ereignisse handeln, die zu Frustration und Enttäuschung führen. Subjektiv empfundene mangelnde Wertschätzung, Vertrauensbrüche und Ungerechtigkeiten sind hier oft die Auslöser. Auch das Nichteintreten von Erwartungen, seien sie realistisch oder nicht, frustriert (»Ich habe doch ein Recht auf …«, »Es steht mir doch zu, dass …«, »Wieso die anderen und nicht ich?«). Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege, die zeigen, dass das langfristige Festhalten an Groll und Feindseligkeit zu körperlichen und psychischen Problemen führen kann. Sich in Vergebung zu üben hingegen reduziert Depressivität, Zorn und Feindseligkeit sowie Stress. Es steigert die Zufriedenheit, Zuversicht und das Glücksgefühl.[2] Durch die Fähigkeit, vergeben zu können, erhöhen wir zudem unseren Optimismus,[3] was ja ein wichtiger Meilenstein zur Selbstfürsorge ist.

Rachegelüste loswerden und Frieden schließen

Wie funktioniert Vergebung? Stellen wir uns folgende Situation vor: An Ihrem Arbeitsplatz hat Sie eine bisher »gute« Kollegin sehr enttäuscht. Sie hat hinter Ihrem Rücken mit dem Chef eine Entscheidung gegen Sie getroffen, obwohl Sie es anders vereinbart hatten. Als Sie sie darauf ansprachen, überging sie die Angelegenheit mit einem geringschätzigen Schulterzucken. Sie fühlen sich verständlicherweise sehr gekränkt und sind enttäuscht. Seither hegen Sie Rachegelüste.

Angelehnt an die Vorschläge Worthingtons (fünf Schritte der Vergebung),[4] könnten Sie Folgendes probieren (das Vorgehen ist wissenschaftlich evaluiert):

  1. Erinnern Sie sich ganz genau an die Kränkung oder Verletzung. Sehen Sie sich dabei weder als Opfer, noch verteufeln Sie den Täter (in diesem Fall Ihre Kollegin). Entscheiden Sie sich bewusst dafür zu vergeben.
  2. Stellen Sie sich vor, sie säßen der Person (hier also Ihrer Kollegin) gegenüber und sagten ihr, wie Sie sich fühlen (zum Beispiel enttäuscht, gekränkt, traurig, zornig …). Sie können dies laut aussprechen und wirklich so tun, als säße die Person vis-à-vis. Versetzen Sie sich dann in sie (in die Kollegin). Was könnten die Beweggründe gewesen sein, weshalb sie so gehandelt hat? Vielleicht wird jetzt verständlicher, warum sie sich so verhalten und Sie damit verletzt hat. Sie entschuldigen damit weder sie noch ihr Vorgehen. Sie wechseln allerdings die Perspektive.
  3. Verzeihen Sie der Person in Gedanken: »Ich verzeihe dir.« Es hilft, an Situationen zu denken, in denen Sie selbst jemand anderen verletzt haben. Das passiert. Und war es dann nicht erleichternd, wenn Ihnen verziehen wurde?
  4. Schreiben Sie nun auf einen Zettel, dass Sie der Person (Ihrer Kollegin) verziehen haben.
  5. Erinnern sich immer wieder daran, indem Sie den Text auf dem Zettel lesen, am Anfang täglich. So festigt sich Ihr Entschluss. Sie lassen Ihren Zorn oder Ihre Rachegefühle los. Sie können mit der Situation oder dem Menschen schließlich Ihren Frieden schließen.

Probieren Sie diese Schritte bei relativ kleinen Kränkungen und Verletzungen aus, zum Beispiel an dem Autofahrer, der Ihnen den Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat, an Ihrem Partner, der etwas in Ihren Augen »falsch« gemacht hat, an der Frau in der Bahn, die Sie gerade gestoßen hat, an dem »Unfallgegner«, der Ihnen eine heftige Delle ins neue Auto gefahren hat, an Ihrem Kind, dem soeben die teure Vase heruntergefallen ist. Gelingt Ihnen das, steigern Sie sich und vergeben Menschen, die Sie stärker verletzt haben. Sie werden, nachdem Sie sich anfänglich dazu haben durchringen müssen, eine große Erleichterung spüren.

Belastbarkeit erhöhen und Kritik nicht persönlich nehmen

Sich vorbeugend gegen kleinere Kränkungen und Verletzungen zu immunisieren ist auch eine Strategie: Nehmen Sie nichts persönlich! Wenn die Kollegin Sie wie in dem eben genannten Beispiel hintergeht, sagt das etwas über diese Dame aus, aber nicht über Sie. Im Zweifelsfall hat das mit Ihnen persönlich noch nicht einmal etwas zu tun. Wenn ich zum Beispiel hungrig bin, werde ich wie gesagt gereizt und mag dadurch schon manches Mal jemanden verletzt oder gekränkt haben. Hatte es etwas mit dem anderen zu tun? Nein, es lag an mir und meinem Hunger. Nehmen Sie also nichts persönlich!

Selbstfürsorge heißt auch, sich selbst zu vergeben. Für vermeintliche Fehler oder Schwächen, für Gelegenheiten, die wir verpasst haben, für Unwissenheit, für Verletzungen, die wir anderen zugefügt haben, für unsere begrenzte Belastbarkeit und dafür, dass wir nicht immer so funktionieren, wie wir uns das wünschen oder gar erwarten. Manches können wir wiedergutmachen, anderes nicht. Manche werden unsere Entschuldigung annehmen, andere nicht. Sich selbst zu verzeihen funktioniert genauso wie die eben genannten fünf Schritte, nur dass Sie sie auf sich anwenden und mit sich in ein Zwiegespräch treten. Wechseln Sie auch da die Perspektive, und überlegen Sie sich, wieso Sie damals wohl so gehandelt haben, um für sich selbst ein größeres Verständnis aufzubringen. Da unsere Selbstvorwürfe und Schuldgefühle oft überzogen und sogar irrational sind, sollten Sie sie einem Realitätscheck unterziehen. Manchmal ist allerdings eine professionelle Unterstützung sinnvoll und nötig, um über schwere Kränkungen, Verletzungen oder gar Traumatisierungen hinwegzukommen.

[Selbstreflexion Anfang]

Wem möchte ich was verzeihen? 

Was möchte ich mir selbst verzeihen?

[Selbstreflexion Ende]

Aus: Tatjana Reichhart: Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. Roadmap für den Alltag. Kösel Verlag München, 2019


[1] Worthington, Everett: How can you REACH Forgiveness?, http://www.evworthington-forgiveness.com, abgerufen am 21.7.2018

[2] Akhtar, S./Barlow, J.: »Forgiveness therapy for the promotion of mental well-being: A systematic review and meta-analysis«, Trauma, Violence, & Abuse 19 (1), 2018, S. 107–122; weiterführende Studien zu dem Thema: A Bibliography of Scientific Literature about Forgiveness, http://www.forgivenessresearch.com, abgerufen am 6.10.2018

[3] Seligman: Der Glücks-Faktor, a. a. O.

[4] Worthington, a. a. O.

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