Führungskraft Porträt Frau

Wie gelingt gesunde Führung?

Aus dem Coaching Magazin 04/2023. Hier finden Sie das Original.

Interview mit Dr. Tatjana Reichhart

Führungskräfte sind mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert. Ihre Teams sollen wirtschaftliche Ziele verwirklichen. Gleichzeitig gehört es zur Verantwortung einer Führungskraft, Bedingungen zu schaffen, die dem Erhalt der psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden dienen. Dass hierin keinesfalls ein Widerspruch zu sehen ist, weiß Dr. Tatjana Reichhart, die im Bereich gesunder Führung coacht. Was eine gesundheitsförderliche Führungspraxis ausmacht und weshalb auch Ärzte von Coaching-Know-how profitieren, erklärt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Interview. 

Erschienen im Coaching-Magazin in der Ausgabe 4 | 2023 am 15.11.2023

Von Dr. Tatjana Reichhart Ein Gespräch mit David Ebermann

Seit 2015 coachen Sie Führungskräfte im Bereich der gesunden und werteorientierten Führung. Was macht gesunde Führung aus?

Bei gesunder Führung geht es um die Frage, wie sowohl die Mitarbeitenden als auch die Führungskräfte widerstandsfähig, sprich resilient, bleiben. In der VUCA-Welt sind die Menschen mit vielen Veränderungen, Herausforderungen und Krisen konfrontiert. Und zwar nicht nur innerhalb der Unternehmen, denn gesellschaftliche Probleme, die bewältigt werden müssen, kommen hinzu. Zudem hat jeder Mitarbeiter und jede Führungskraft ein Privatleben, in dem es Stressoren und schwierige Situationen geben kann. Eine gesunde und resiliente Führungspraxis trägt vor diesem Hintergrund dazu bei, dass die Führungskraft selbst gesund und leistungsfähig bleibt und die Mitarbeitenden gleichzeitig darin unterstützt, ebenfalls ihre Kraft zu erhalten. Wenn ich als Führungskraft oder Mitarbeiter keine Energie mehr habe, kann ich weder effektiv noch produktiv sein und auch keinen Mehrwert für das Unternehmen generieren. Im unternehmerischen Kontext geht es selbstverständlich immer auch um Leistung. Gesunde Führung bedeutet nicht, alle relaxen zu lassen oder nie eine Deadline vorzugeben. Stattdessen geht es um einen verantwortungsvollen Umgang mit den gegebenen Anforderungen. Zu berücksichtigen ist auch die organisationale Ebene. Wie ist die Organisation aufgebaut? Wie sehen die Strukturen aus? Ist es überhaupt möglich, mit der Anzahl an vorhandenen Mitarbeitenden die aufkommende Arbeit zu bewältigen? Alle drei Ebenen – Organisation, Führung und die Teams – wirken zusammen. Auch ein Mitarbeiter trägt die Verantwortung, sich zu fragen: Wie gehe ich individuell mit Stress um? Wie kann ich meine eigene Resilienz stärken? Wer z.B. überaus perfektionistisch ist, setzt sich womöglich selbst über das notwendige Maß hinaus unter Druck, ohne letztlich Ergebnisse zu liefern. Das kann krank machen. 

Inwiefern geht es in diesem Kontext um Werteorientierung?

Führungskräfte sollten sich grundsätzlich darüber klar werden, wofür sie stehen wollen, was ihnen wichtig ist und wie die daraus resultierenden Handlungen wirken. Das muss sich nicht nur auf die Arbeit beziehen, sondern kann auch das Leben im Allgemeinen betreffen. Es geht nämlich zunächst einmal darum, zu verstehen, was generell wichtige Werte für uns Menschen sind. Oft wird uns suggeriert, dass Status unglaublich wichtig und wertvoll sei. Für Einzelne mag das auch so sein. Der Gesundheit des Menschen zuträglich sind aber vor allem Werte wie soziales Miteinander, Verbundenheit, Selbstbestimmung oder das Gefühl, Handlungsspielraum zu haben. Auch Wertschätzung ist hilfreich, weil sie Stress puffern kann. Aus Studien wissen wir, dass Menschen entspannter und belastbarer werden, wenn sie Wertschätzung erfahren. Eine Führungskraft sollte sich aber nicht nur die Kappe der Wertschätzung aufsetzen, wenn sie auf der Arbeit erscheint. Vielmehr ist dies eine Frage der Haltung. Im Coaching starte ich gerne mit der Frage: „Warum sind Sie Führungskraft geworden?“ Sie bietet einen guten Einstieg in das Thema Werte. Dann gilt es natürlich zu reflektieren, ob das Leitbild des Unternehmens zu den Werten passt, an denen die Führungskraft ihre Arbeit ausrichten möchte.

Fungieren Führungskräfte hinsichtlich ihrer Selbstführung als Vorbilder im Unternehmen?

Unbedingt. Menschen orientieren sich an Vorbildern – und zwar insbesondere innerhalb hierarchischer Strukturen. Mitarbeitende werden sich hinsichtlich ihrer Einschätzung des von ihnen erwünschten Verhaltens immer auch daran orientieren, was ihre Führungskraft vorlebt. Schreibt eine Führungskraft an den Wochenenden E-Mails, was in fast jedem Unternehmen vorkommt, hilft es wenig, wenn sie ihren Mitarbeitenden sagt oder dazu schreibt, dass sie am Wochenende keine Antworten erwartet. Das Handeln ist entscheidend und bestimmt den Subtext. Verabschiedet sich eine Führungskraft hingegen pünktlich zum Feierabend mit den Worten, „ich gehe noch zum Sport“, hat dies auch eine Vorbildfunktion, weil vorgelebt wird, sich Zeit für die eigenen Bedürfnisse zu nehmen. Eine Anekdote: Ich kenne ein Unternehmen, in dem ein Ruheraum eingerichtet worden ist. Den Mitarbeitenden wurde gesagt, sie sollten da ruhig mal reingehen – nicht um zu arbeiten, sondern um von Zeit zu Zeit abseits des Großraumbüros Ruhe zu finden. Der Raum blieb aber immer leer. Weshalb? Weil er nie von einer Führungskraft betreten wurde. Wenn es um gesunde Selbstführung geht, kann die Beeinflussung der Teams durch die Führungskräfte also in beide Richtungen gehen und negativ oder auch positiv ausfallen. Übrigens: Auch Coaches sollten sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und z.B. die eigenen Werte aufgearbeitet haben sowie eine gesunde Selbstführung praktizieren, um in ihrer Arbeit authentisch an entsprechenden Themen arbeiten zu können.

Sind sich die Führungskräfte ihrer Vorbildfunktion bewusst oder gilt es im Coaching, zunächst ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen?

Die meisten Führungskräfte, mit denen ich in Coachings oder auch Workshops arbeite, unterschätzen ihre Vorbildfunktion. Ihnen ist tatsächlich nicht bewusst, wie stark ihr Einfluss auf die Mitarbeitenden ausfällt. Spreche ich dies im Coaching an, heißt es oftmals: „Aber ich gebe doch ausdrücklich Raum für eigene Entscheidungen und erwarte nicht, dass am Wochenende gearbeitet wird.“ Dass es vor allem relevant ist, die kommunizierten Werte auch vorzuleben, ist dann für viele eine wichtige Erkenntnis. Daher geht es in den Coachings viel um Sensibilisierung durch Bewusstmachung und Selbstreflexion, die anhand von Rollen- und Perspektivwechseln erfolgt.

Welche Rolle spielen dysfunktionale Glaubenssätze, wenn Führungskräfte beispielsweise schonungslosen Ehrgeiz oder übertriebene Perfektion vorleben?

Dysfunktionale Glaubenssätze und Werte spielen – übrigens unabhängig vom Geschlecht – oft eine Rolle. Wer von der Gesellschaft, von Medien oder seinen Eltern gelernt hat, dass Leistung alles im Leben sei, und Erfolg nur über materielle Werte und Status definiert, wird wahnsinnig viel Energie investieren, um genau dies zu erreichen. Blickt man hinter solche Glaubenssätze, kommen in der Regel andere Motive zum Vorschein: z.B. das Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit kann sich in einem ungesund hohen Leistungsanspruch niederschlagen, weil die Person Angst hat, ausgeschlossen zu werden, wenn sie nicht die erwarteten Ergebnisse liefert. Gefördert werden Muster wie diese oftmals schon früh – beispielsweise dann, wenn ein Kind von der Schule kommt und erzählt, dass es eine Zwei geschrieben hat, und die Eltern entgegnen, dass es nächstes Mal eine Eins sein möge. Leistungsdenken ist nichts Schlechtes, aber es geht um das Maß. 

Wenn eine Führungskraft nicht mehr frei entscheiden kann, ob sie am Wochenende arbeiten will oder nicht, weil sie sich so sehr getrieben fühlt, ist dies bedenklich. Die Führungskraft handelt dann nicht mehr frei und selbstbestimmt, sondern ist in ihren Glaubenssätzen oder in vermeintlich von außen an sie gerichteten Erwartungen gefangen. Im Coaching lohnt es sich, herauszufinden, was die Person antreibt. Um Befürchtungen zu hinterfragen, bietet es sich auch an, zu reflektieren, was denn schlimmstenfalls passiert, wenn etwa eine Deadline gerissen wird. Oftmals erwächst daraus große Freiheit, die mit reduzierter Anspannung und einem niedrigeren Stresslevel verbunden ist. Die Führungskräfte sind anschließend nicht weniger produktiv. Überhaupt nicht! Stattdessen sind sie beispielsweise besser in der Lage, auf Mikromanagement zu verzichten oder ihren Perfektionismus auf ein praktikables und verhältnismäßiges Niveau zu reduzieren. Sie verstehen, dass sie nicht ausschließlich an Leistung gemessen werden, sondern auch unabhängig davon – als Menschen – wertvoll sind. Im Sinne der gesunden und resilienten Führung kann sie dies zu besseren Führungskräften machen, weil sie den vorher verspürten, sehr starken Druck nicht mehr an die Mitarbeitenden weitergeben.

Kommt gesunde Führung dem Leistungsgedanken mittel- und langfristig sogar zugute?

Ja. Wer gesund führt, hält auch den Marathon durch. Wer seine Antreiber kennt, überträgt sie nicht unreflektiert auf andere und stärkt seine Selbstregulationsfähigkeit, die einer der wichtigsten Resilienzfaktoren ist. Die Person ist nicht mehr von einem Reiz-Reaktions-Automatismus getrieben, sondern kann selbstbestimmt handeln und dadurch priorisieren, strukturieren und in schwierigen Situationen Ruhe ins Team bringen und diesem Orientierung geben, was ein wichtiger und originärer Teil der Führungsaufgabe ist.

Werden Sie eher vorausschauend beauftragt oder wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist?

Workshops zum Thema gesunde Führung finden eher präventiv statt. Bei den Coachings ist das Kind häufig schon zumindest halb in den Brunnen gefallen, wenn ich die Anfrage erhalte. Jedenfalls gibt es eine Not, wenn eine Führungskraft mich kontaktiert und sagt: „Ich brauche jetzt ein Coaching.“ Allerdings gibt es auch Unternehmen, in denen es zum Standard der Führungskräfteentwicklung gehört, dass sich Personen, die eine Führungsrolle antreten, im Rahmen eines Coachings mit sich selbst beschäftigen. Ich finde das großartig.

Laut einer Studie des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung ergreifen nur 38,3 Prozent der Organisationen schon heute Maßnahmen im Bereich der gesunden Führung, obwohl das Thema immer wichtiger werde. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Auf jeden Fall. Anzumerken ist allerdings, dass überhaupt erst in den letzten Jahren eine echte Entwicklung stattgefunden hat. Zuletzt hat die Corona-Pandemie nochmals deutlich gezeigt, dass das Thema psychische Gesundheit im Arbeitskontext relevant ist. Als ich 2007/2008 – ich arbeitete noch als Ärztin an der Klinik – angefangen habe, mich in einer Arbeitsgruppe intensiver mit der Thematik zu befassen, gab es in den Unternehmen selten ein Bewusstsein für die Bedeutung psychischer und mentaler Gesundheit am Arbeitsplatz. Sprach man mit Personalverantwortlichen und Führungskräften, hörte man noch Sätze wie: „Bei uns arbeiten vor allem Männer. Die haben es am Rücken und nicht an der Psyche.“ (lacht) Das wäre heute gar nicht mehr vorstellbar. Seither hat sich einiges getan und wir sind auf dem richtigen Weg. Die Bereitschaft, sich mit sich selbst zu beschäftigen, nimmt meiner Wahrnehmung nach immer mehr zu – auch bei Männern, die sich erfahrungsgemäß etwas schwerer damit tun, sich mit ihren Verletzlichkeiten auseinanderzusetzen. Geht ein Coach sensibel an entsprechende Themen heran, ist die Bereitschaft da.

Welche Rolle spielt das Thema Burnout-Prävention in Ihren Coachings?

Das Thema ist weiterhin relevant, wenngleich der Begriff seltener verwendet wird. Die Leute sagen nicht gerne: „Ich kann einfach nicht mehr.“ Das ist durchaus stigmatisiert. Daher kommen sie stattdessen ins Coaching, um z.B. eine „Lösung für den Umgang mit Stress“ zu finden. Insofern sind Begriffe wie Resilienzstärkung oder Förderung der Widerstandskraft dankbarer. Letztendlich geht es aber bei allen Coachings, die auf einen besseren Umgang mit Stress und Herausforderungen zielen, immer auch darum, keinen Burnout zu bekommen und in der Folge nicht krank zu werden. Burnout ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von Depressionen, Angststörungen, Abhängigkeitserkrankungen etc. Davor will Resilienzförderung schützen.  

Woran ist zu erkennen, dass jemand bereits einen Burnout aufweist?

Die Menschen können sich aus eigener Kraft kaum noch erholen und erleben selbst dann, wenn sie im Urlaub sind, kein Gefühl von Regeneration. Ihre Leistungsfähigkeit sinkt – verbunden mit einem Gefühl von körperlicher und psychischer Erschöpfung. Nicht selten bedingen erlebte Frustration und Verbitterung zudem einen bösartigen Zynismus. Betroffene reißen sich oftmals lange zusammen und sind hochengagiert, bis sie an einen Punkt kommen, an dem es schlagartig nicht mehr geht. Hier kommt wieder die Führung ins Spiel, denn im beruflichen Kontext ist sie häufig der Auslöser, der das Fass letztlich überlaufen lässt. Beispielsweise dann, wenn man seine ganze Energie aufopferungsvoll in ein Projekt investiert hat, das dann in der Schublade des Chefs verschwindet. Weist jemand die genannten Merkmale auf, kann man ihn fragen: „Was würden Sie machen, wenn Sie wie durch ein Wunder plötzlich alle Energie zurückhätten?“ Von Burnout Betroffene werden häufig antworten: „Dann würde ich sofort wieder … machen oder … in Angriff nehmen.“ D.h., sie fühlen sich noch getrieben, ihnen fehlt nur die Energie für die Umsetzung. Jemand mit einer Depression würde hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass er gar nicht weiß, was er dann täte, weil er ohnehin an allem das Interesse verloren hat. Hier liegt eine Art Trennlinie zweier Zustände, die sich auf den ersten Blick sehr ähneln können.

Risiken können ebenso im Privaten liegen, während die Arbeit der psychischen Gesundheit zuträglich sein kann …

Eindeutig. Es ist unbedingt festzuhalten, dass Arbeit nicht per se krank macht. Im Gegenteil: Sie kann ein nicht zu unterschätzender Schutzfaktor sein, indem sie soziale Eingebundenheit, finanzielle Absicherung, Anerkennung, Erfolg, Lernen, Entwicklung und Struktur ermöglicht. Wir wissen, dass Menschen, die ihre Arbeit verlieren, ein sehr viel höheres Risiko für psychische Erkrankungen haben. Psychische Gesundheit und Resilienz brauchen immer eine Ausgewogenheit von Gegensätzen: Anspannung und Entspannung, Anregung und Erholung, Tun und Sein. Es ist auch nie nur die Führung allein schuld, wenn ein Teammitglied eine starke Belastung aufweist, aber selbstverständlich gibt es Untersuchungen, die klar belegen, dass Führungskräfte einen signifikanten Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeitenden haben.

An der Kitchen2Soul-Akademie bieten Sie seit 2019 eine Ausbildung im Bereich Resilienz an. Worauf zielt das Angebot?

Menschen sind eine sehr widerstandsfähige Spezies, sonst gäbe es uns nicht mehr. Die grundsätzliche Fähigkeit, resilient zu sein und mit schwierigen Situationen umzugehen, hat uns die Natur mitgegeben. Das ist eine gute Nachricht, die wir in der Ausbildung auch vermitteln. Wenn wir an dieser Fähigkeit zusätzlich arbeiten, sie ausbauen und dadurch hilfreiche Ressourcen und Kompetenzen entwickeln, sind wir umso besser auf Herausforderungen vorbereitet und können unsere Widerstandsfähigkeit erhalten. Die Ausbildung soll dazu befähigen, andere hierin zu unterstützen. Wir wollen den Teilnehmenden das hierfür notwendige, wissenschaftlich fundierte Theoriewissen vermitteln, ihnen aber auch das praktische Handwerkszeug für die Anwendung an die Hand geben. Selbstverständlich lernen unsere Teilnehmenden im Rahmen der Selbsterfahrungsanteile auch, wie sie ihre eigene Resilienz stärken. Laut einer Untersuchung einer Krankenkasse schauen sehr viele Menschen fern, um Stress abzubauen. Andere greifen zu Alkohol. Das sind ungünstige Strategien. Dabei gibt es viele einfache und effektive Möglichkeiten der Stressregulation – soziale Kontakte, Optimismus, Sinn- und Werteorientierung etc. Auch dies war ein Grund, mit dem Angebot an den Markt zu gehen. Die Ausbildung habe ich zusammen mit Claudia Pusch konzipiert und wir führen sie auch zusammen durch. Das passt sehr gut, weil wir beide Vorerfahrungen im Thema haben und fachliche Hintergründe mitbringen, die sich gewinnbringend kombinieren lassen. Sie ist systemische Therapeutin und Coach. Ich komme aus der Verhaltenstherapie und arbeite ressourcenorientiert.

An wen richtet sich die Ausbildung?

Das Feld ist breitgefächert. Es nehmen sowohl bereits ausgebildete Coaches, die sich im Bereich Resilienz weiterbilden und spezialisieren wollen, als auch Führungskräfte und Personalverantwortliche teil, die das erworbene Wissen in ihre Unternehmen tragen und dort als Multiplikatoren auftreten sollen. Ebenfalls haben wir Teilnehmende aus sozialen bzw. pädagogischen Berufen – etwa Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie Lehrkräfte. Es haben auch schon Piloten und Rechtsanwälte teilgenommen, die mehr darüber erfahren wollten, wie der Mensch funktioniert. Es sind also nicht alle Teilnehmenden als Coaches tätig. Für Personen, die noch keine Coaching-Ausbildung absolviert haben, aber Coach werden wollen, bieten wir – in einer Art Baukastensystem – weitere Bestandteile an. Systemisches Coaching und Aufstellungsarbeit kommen dann als Basiselemente hinzu, um auch die notwendigen Grundkompetenzen zu erwerben.

Im Kontext Resilienz legen Sie Wert auf Konzepte aus der positiven und ressourcenorientierten Psychologie. Weshalb?

Das ergibt sich aus der Forschung. Resilienz verändert sich im Laufe des Lebens. Die Fähigkeit, trotz Stressoren psychisch gesund zu bleiben bzw. aus Krisen gestärkt hervorzugehen, ist keine starre Persönlichkeitseigenschaft. In unserem Fachbuch „Resilienz-Coaching“, das als Türöffner in die Thematik fungieren und deren Relevanz unterstreichen soll, behandeln Claudia Pusch und ich sechs Resilienzfaktoren. Einer davon ist der Optimismus, der einen großen Einfluss auf die Widerstandsfähigkeit hat. Antworten auf die Frage, wie sich Optimismus trainieren und stärken lässt, sind in der Literatur zur positiven Psychologie zu finden. Es geht hier nicht darum, sich die Welt zu machen, wie sie einem gefällt. Es ist nicht immer alles rosarot. Stattdessen bedeutet Optimismus in diesem Kontext, beide Seiten zu sehen – also auch die positive. Man könnte demnach auch von Zuversicht sprechen. Der Mensch hat einen Negativitäts-Bias. Er nimmt Negatives wie Gefahren und Bedrohungen stärker wahr als Positives. Das ist evolutionsbiologisch erklärbar. Manchmal denken wir am Ende eines Tages, dass alles schlecht war. Nüchtern betrachtet findet man aber neben den weniger schönen fast immer auch gute Aspekte. Richtet man sein Augenmerk auch bewusst auf das Positive, gibt dies Energie und Ressourcen, um überhaupt weit sehen zu können. Wer sich nur im Stress befindet und dauerhaft auf Schlechtes fokussiert, ist eingeengt und kann nicht lösungsorientiert handeln. Letzteres ist aber wichtig, denn auch die Lösungs- und Zukunftsorientierung wirkt stärkend.

Wie bildet sich dieses Wissen um den Wert des Optimismus in gesunder Führung ab?

Ein einfaches Beispiel sind Teammeetings. Richten Führungskräfte den Fokus nur auf das, was nicht gut gelaufen ist, oder rücken sie neben Defiziten auch Erfolge in den Blickpunkt? Und wie gewichten sie beide Seiten zeitlich? Führungskräfte sollten auch die erlebte Selbstwirksamkeit ihrer Teams im Blick haben. Selbstwirksamkeit als Resilienzfaktor bedeutet, dass die Führungskraft ihren Mitarbeitenden Leitplanken gibt, ihnen innerhalb dieses Handlungsrahmens aber auch Gestaltungsspielraum lässt und sie in ihrer Lösungsorientierung unterstützt, ohne Mikromanagement zu betreiben. Führungskräfte, die Verantwortung abgeben, unterstützen die Selbstwirksamkeit ihrer Teammitglieder.

Sie sind Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Weshalb haben Sie diesen Weg eingeschlagen?

Der Mensch und die Frage, wie er funktioniert bzw. wie er nicht funktioniert, haben mich schon immer interessiert, jedoch wollte ich mich – ich übertreibe jetzt etwas – nicht so gerne mit Kniegelenken, Lebern und Nieren befassen. (lacht) Ich fand es spannender, mich mit dem Gehirn, dem Sitz der Psyche des Menschen, auseinanderzusetzen. Ich hatte bereits ein Jahr lang Kommunikationswissenschaften studiert und wechselte dann zur Medizin. Es fiel mir allerdings schwer, mich zwischen Psychologie und Medizin zu entscheiden. Im Nachhinein bin ich froh, Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet zu haben. Wenngleich ich nicht der Meinung bin, dass Coaches zwingend eine medizinische oder therapeutische Ausbildung brauchen, stellt die Medizin ein sehr gutes Fundament hinsichtlich dessen dar, was ich heute mache. Zu wissen und zu verstehen, was in jemandem passiert, der krank ist, hilft mir ungemein bei der Prävention.

Sie arbeiteten an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München und anschließend als niedergelassene Fachärztin. Warum haben sie diese Tätigkeit zugunsten des Coachings aufgegeben?

Ich bin verhaltenstherapeutisch ausgerichtet und viele Strategien, die man im Coaching nutzt, stammen aus der Verhaltenstherapie, sodass es bereits eine methodische Nähe gab. Ich engagierte mich zudem in einer Arbeitsgruppe, die sich mit psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz befasste, das Thema beforschte und Workshops in Unternehmen und Behörden anbot. Die Thematik hat mich sehr interessiert und so hat sich alles Weitere nach und nach entwickelt.

Sind Sie im Zuge der Workshops an Punkte gestoßen, deren Bearbeitung des Einzel-Coachings bedurfte?

Ja, das passierte. Workshops und Seminare können insbesondere zur Sensibilisierung für das Thema beitragen und Wissen vermitteln. Als Verhaltenstherapeutin war mir aber immer klar, wie viel mehr man im Einzel-Setting für das Individuum erreichen kann, sofern es motiviert ist und freiwillig erscheint. Daher war es nie mein Ziel, die Arbeit mit Einzelpersonen aufzugeben. Es kommt auch vor, dass Workshopteilnehmende später zu mir ins Coaching kommen, um auf individueller Ebene weiterzuarbeiten. Neben den Workshops und Coachings berate ich Unternehmen und Behörden hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen für sie sinnvoll sind. Es gibt viele Anbieter und Konzepte im Bereich gesunder Führung, aber nicht jede Maßnahme ist für jede Organisation geeignet. Hier kann man viel Geld verbrennen. Auch diese Tätigkeit bereitet mir großen Spaß.

Sie waren Oberärztin. Haben Sie aus dieser Führungsrolle Erfahrungen mitgenommen, die Ihre heutige Arbeit prägen?

Durchaus, allerdings ist meine Führungsrolle bei Kitchen2Soul, dem Unternehmen, das ich 2015 zusammen mit Katrin Große gründete, hier noch relevanter. In dieser Rolle ist mir nochmals sehr bewusst geworden, wie wichtig Selbstreflexion und Selbstregulation sind, um andere Menschen führen zu können. Ich merkte, dass ich es stark auf das Team übertrug, wenn ich gestresst war. Je nachdem, wie man in Stresssituationen reagiert, kann man sehr viel Ruhe oder auch Chaos ins Team bringen. Zum Glück hatte und habe ich Mitarbeitende, die mir Feedback geben und sagen können: „Wir merken, dass gerade irgendetwas nicht in Ordnung ist.“ Ich konnte das Feedback auch annehmen – zumindest nach einer gewissen Zeit. Feedback zu erhalten und anzunehmen, kann eine große Chance darstellen, positive Veränderungen anzugehen. Aus diesem Grund sind Beziehungen so wichtig – sowohl im Beruflichen als auch im Privaten. Man sagt, je höher Führungskräfte aufsteigen, desto weniger ehrliches Feedback bekommen sie. Der Selbstreflexion ist dies nicht förderlich.

Sie bieten Trainings im Bereich der Arzt-Patienten-Kommunikation an. Wie sollte eine solche aussehen?

Oftmals treffen Ärzte unüberlegte Aussagen, mit denen die Patienten dann alleine gelassen werden und dekompensieren. Sagt der Arzt etwa „Oh, das sieht schlecht aus!“, kann dies der Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten schaden. Es fehlt einfach häufig an Wissen darüber, was Kommunikation bewirkt. Das war damals – die Tätigkeit habe ich während meiner Zeit in der Klinik aufgenommen – der Anlass, hier aktiv zu werden. Grundsätzlich sind Aspekte förderlich, die in jeder Art der Kommunikation und Beziehung angebracht sind: Interesse zeigen, den Patienten ernst nehmen, mit ihm auf Augenhöhe sprechen, ihm zuhören und nicht sofort ins Wort fallen. Ärzte unterbrechen ihre Patienten – da gibt es unterschiedliche Studien – nach etwa 14 Sekunden. Das ist der Wahnsinn und natürlich führt dies auf Patientenseite zu Unzufriedenheit. Es geht dabei um die Haltung, mit der dem Patienten begegnet wird. Trete ich als Halbgott in Weiß auf oder zeige ich Empathie und stelle Fragen, durch die der Patient sich wahr- und ernstgenommen fühlt? Das Menschliche geht leider oft ein Stück weit verloren, wobei die Studiengänge mittlerweile mehr Wert auf das Thema Kommunikation legen.

Coaches begreifen ihr Gegenüber als Experte für sich selbst. Raten Sie dies auch den Ärzten?

Ja, definitiv. Ärzte sollten zudem die Ressourcen ihrer Patienten stärken und nicht nur defizitär denken. Coaching-Wissen ist für Ärzte sehr hilfreich. Allein zu verstehen, wie man Patienten über Fragestellungen motivieren kann, ist sehr wertvoll. Das Thema Motivation spielt ja eine riesige Rolle bei der Behandlung. Man denke an die Veränderungsmotivation. Wenn ein Diabetiker Gewicht verlieren sollte, sagt mancher Arzt: „Sie müssen abnehmen.“ Super, das ist ja sehr motivierend. (lacht) Von Grundkompetenzen im Coaching, in motivierender Gesprächsführung und von Ressourcenorientierung können Ärzte nur profitieren und ich versuche, dies zu vermitteln. Nach meiner Zeit in der Klinik arbeitete ich als niedergelassene Psychiaterin in einer kassenärztlichen Praxis. Daher weiß ich, dass die Rahmenbedingungen nicht einfach sind. Wenn man einmal im Quartal 15 Minuten mit einem Patienten hat, ist das in der Psychiatrie sehr wenig. Das bedingt starken Druck. Mit dem Patienten gute Gespräche zu führen, wird – das gilt auch für andere Fachrichtungen – institutionell nicht gefördert. Dennoch kann ich die zur Verfügung stehende Zeit gut oder schlecht nutzen, den Patienten beispielsweise ressourcenorientiert in seiner Resilienz stärken oder defizitorientiert schwächen. Leider spielt Resilienzförderung in der ärztlichen Ausbildung keine nennenswerte Rolle, obwohl gerade kranke Menschen Wege finden müssen, mit ihrer Situation umzugehen. Auf den Impuls, hier schon mit wenig recht viel erreichen zu können, reagieren viele Ärzte – aber natürlich nicht alle – mit großem Interesse.

Eigene Werte finden: Inventur Ihrer Sehnsuchts-Objekte

(erweiterter Auszug aus:  Tatjana Reichhart und Claudia Pusch: Selbstbestimmt. Wie wir mit Erwartungen umgehen und ein authentisches Leben führen“ (2022, Kösel Verlag).

Im Folgenden stelle ich Ihnen eine neue Übung von mir vor, um sich der Frage nach den eigenen Werten zu nähern, die erstmals in unserem Ratgeber „Selbstbestimmt“ 2022 veröffentlicht worden ist.

Kennen Sie Menschen, die oft davon erzählen, was Sie alles machen wollen, es aber nie tun? Diese Menschen leben nur „theoretisch“ ihren Traum (oder Ihr Leben) und verschieben ihre Vorhaben immer wieder in die Zukunft. Oftmals finden sich die unerfüllten, aber schon mal theoretisch angedachten Träume im Speicher, im Keller oder in der Garage: die Spiegelreflexkamera, die für die große Weltreise steht; das Surfbrett, dass das Gefühl von Jugend erhalten soll oder der SUV in der Innerstadt-Tiefgarage, der Ausdruck des „theoretischen“ Wunsches nach mehr Freiheit oder Naturverbundenheit ist. Aber theoretische Selbstbestimmung, theoretische Werte, ein theoretisches Verwirklichen des eigenen Lebensentwurfes bleiben halt irgendwo zwischen Ausreden und dem eigenen Tod stecken.

Machen Sie doch mal eine Inventur Ihrer Sehnsuchts-Gegenstände. Gehen Sie durch Ihren Keller, den Speicher, die Abstellkammer, durchkämmen Sie Safes oder das angemietete Self-Storage: Was finden Sie dort? Welche Träume liegen da brach? Was war der Grund, weshalb Sie diese Gegenstände angeschafft und vor allem weshalb Sie sie behalten haben? Was assoziieren Sie mit dem Snowboard, das seit 5 Jahren ungenutzt in der hintersten Ecke steht oder mit der Uhr im Safe? Welche Bedeutung hatte oder hat das, was Sie in den Kisten finden, die Sie seit Jahren nicht genau angesehen haben? Was sagen diese Objekte darüber aus, was Ihnen wichtig ist? Welche Werte repräsentieren sie? Vor allem die ideellen Werte? Wieso liegen diese Gegenstände in der hintersten Ecke des Schrankes oder unter 10 Kisten auf dem Dachboden mit bereits modrigem Geruch? Warum haben Sie sie nicht längst schon entsorgt oder verschenkt?  Vielleicht weil Sie sie an wichtige Ereignisse in Ihrem Leben erinnern, oder weil sie Wünsche und Ideen repräsentieren, um deren Umsetzung Sie sich noch kümmern wollten.

In einer Inventur (die nicht alles im Speicher und Keller erfassen muss, aber vor allem einige Dinge, die Sie schon lange nicht mehr genutzt haben) schreiben Sie nun auf, was Sie konkret mit dem Gegenstand assoziieren, welche Bedeutung er für Sie hat, weshalb Sie ihn gekauft haben und weshalb er noch da ist. Welchen Wert repräsentiert er? Vielleicht bemerken Sie auch, dass manche Dinge nicht mehr zu Ihnen, Ihrem Leben und auch Ihren Werten passen. Sie haben sich verändert. Vor allem markieren Sie bitte, welche Sehnsüchte Sie reaktivieren und umsetzen wollen. Passen Sie zu Ihrem Lebensstern Soll-Zustand und Ihrem Selbstbestimmungs-Projekt oder sollten Sie da nochmal nachjustieren?

GegenstandBedeutung / Wert dahinterWegwerfen oder reaktivieren?
 „Rennrad“   „Surfbrett“„Fitness, Freiheit, Naturverbundenheit“ „Wollte ich immer mal lernen: Jugendlichkeit, Attraktivität, Reisen“„Reaktivieren“   „Wegwerfen: Ich werde das nie machen und es passt jetzt auch nicht mehr. Dafür fahre ich wieder Rennrad.“
 „Picknickkoffer“       „Gucci -Handtasche“„Freundschaften, Selbstfürsorge, da Zeit für mich, und Entspannung“   „Erfolg, Karriere, es geschafft haben, Geld.“Reaktivieren     Behalte ich als Erinnerung, ich trage sie nie. Wichtiger als Prestige ist mir etwas Gutes zu schaffen, was Bestand hat.  “

Um Ihnen nun den  letzten Schliff Ihrer wesentlichen Werte zu geben, stellen wir Ihnen noch ein paar Fragen:

Wofür möchten Sie stehen? Wofür stehen Sie (ein)?

Wofür lohnt es sich Ihrer Meinung nach zu kämpfen?

Wenn Sie ein ‚Leitbild‘ für Ihr Leben formulieren sollten, was würden Sie dann schreiben?[1] Wenn ich Ihre engsten Freunde bitten würde, mir zu erzählen, wofür Sie leben und was Ihnen am meisten bedeutet, was glauben Sie, würden sie mir sagen?[2]

Welche Augenblicke in Ihrem Leben möchten Sie einrahmen, weil sie so schön waren? Was macht diese Momente aus und was haben Sie gemeinsam?

Fassen Sie nun für sich zusammen, was Ihre Haupt-Werte sind und notieren sie auf Karten oder in einem Journal. Gerade in stressigen Zeiten, werden sie Ihnen helfen, eine für Sie stimmige Priorisierung vorzunehmen und nicht jedes Mal neu entscheiden zu müssen, wozu sie „nein“ bzw. „ja“ sagen.


[1] Miller W.R. & Rollnick, S. (2015). Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing. Freiburg im Breisgau: Lambertus. S. 110

[2] Miller W.R. & Rollnick, S. (2015). Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing. Freiburg im Breisgau: Lambertus. S. 101

Autorin beim Lesen Ihres Buches

Wie Sie richtig abschalten

Auszug aus dem Buch: Das Prinzip Selbstfürsorge. Wie wir Verantwortung für uns übernehmen und gelassen und frei leben. Roadmap für den Alltag.“ Kösel Verlag München, 2019

Nur wer für sich selbst sorgt, kann auch für andere sorgen. Die praxisorientierten Tipps dienen dazu, sie direkt in den Alltag zu integrieren.
Bild © andreamuehleck.com

Abschalten

Sich von anderen Menschen abzugrenzen ist die eine Sache. Aber wie grenzen wir uns gegenüber uns selbst ab? Wie sagen wir Nein zu unseren Gedanken und Sorgen, die uns insbesondere vorm Einschlafen und am Sonntag belasten? Wie schalten wir ab von unseren Gedanken an die Arbeit, wie stoppen wir das Grübeln über bevorstehende oder unerledigte Aufgaben? Wie schaffen wir also auch in unseren Gedanken Kapazitäten für Ausgleich und damit unsere Selbstfürsorge?

Zunächst ist es wichtig zu beachten, dass es fürs Grübeln und Sich-Sorgen-Machen, fürs Nicht-abschalten-Können, Auslöser und Trigger gibt, deren wir uns zunächst entledigen sollten. Wenn ich abends vor dem Schlafengehen noch meine E-Mails checke, aktiviere ich meine Gedanken über die Arbeit damit geradezu. Wenn ich am Wochenende mit meiner Familie über die Probleme im Job rede, komme ich ja erst auf sorgenvolle Gedanken. Und wenn ich im Urlaub für meinen Chef und meine Kolleginnen erreichbar bin, bleibe ich unterbewusst ständig im Stand-by-Modus.

Falls es auch Ihnen schwerfallen sollte abzuschalten, Sie sind nicht allein: Von den 1200 Befragten in der bereits zitierten Stressstudie der Techniker-Krankenkasse, die ja einen Querschnitt der erwachsenen deutschen Bevölkerung abbildet, können knapp 40 Prozent nicht am Abend beziehungsweise Wochenende und etwa ein Drittel nicht im Urlaub richtig abschalten.[1] Da wundert es auch nicht, dass die Rate an Schlafproblemen und Schlafstörungen zunimmt. Fast ein Drittel der Erwerbstätigen schlafen dreimal pro Woche oder häufiger schlecht ein oder durch, 43 Prozent fühlen sich tagsüber ziemlich oft, meistens oder immer müde.[2] Die Fähigkeit abzuschalten ist ein wichtiger Faktor, wenn es um die Qualität der Regeneration und Balance geht. Es bedeutet, seine Aufmerksamkeit von einem Thema ab- und sich anderem zuzuwenden.

Eine große Analyse, in der alle relevanten Untersuchungen zum Thema »Abschalten« zusammengefasst und neu ausgewertet wurden, zeigt, dass diejenigen, die in ihrer Freizeit alle Gedanken an die Arbeit vergessen, weniger erschöpft sind, eine größere Lebenszufriedenheit haben, sich insgesamt besser fühlen, besser schlafen und körperlich gesünder sind. Sie können Aufgaben bei der Arbeit effizienter erledigen und zeigen eine höhere Leistungsfähigkeit. Dabei gab es keine Unterschiede nach den Geschlechtern.[3] Sich mit anderen Themen zu beschäftigen oder mal rauszukommen hat großen Einfluss auf unsere Kreativität. In einer Studie schickte der Neurowissenschaftler David Strayer von dreißig Männern und 26 Frauen rund die Hälfte für vier Tage in die Berge, während die anderen am Computer weiterarbeiten mussten. Diejenigen, die an dem Ausflug teilgenommen hatten, schnitten hinterher in Kreativitätstests um 50 Prozent besser ab.[4]

Abschalten und Raum für Regeneration und Entspannung zuzulassen ist also ein wichtiger und wesentlicher Faktor, um gesund und nicht zuletzt leistungsfähig zu bleiben, also keine egoistische Angelegenheit. Was bringen Sie Ihrem Unternehmen, wenn Sie zwar zwölf Stunden am Schreibtisch sitzen, nachts noch E-Mails checken, nur fünf Stunden schlafen, sich aber nicht mehr konzentrieren können, Ihre Kreativität und Produktivität einbüßen? Die Kunst »erfolgreicher« und widerstandsfähiger Menschen ist, dass sie trotz ihres zeitlich und inhaltlich umfassenden Engagements für ihre Aufgaben, sei es im Beruf oder im Ehrenamt, bei der Pflege von Angehörigen oder in der Erziehung der Kinder, zu gewissen Zeiten ihre Aufgaben außen vor lassen und anderen Beschäftigungen und Gedanken nachgehen, ihren Kopf also frei machen, und sich genügend Zeit für Schlaf und Erholung gönnen. Nehmen Sie sich also besser nicht Napoleon zum Vorbild. Von ihm wird überliefert, dass er sehr stolz darauf war, nur fünf Stunden schlafen zu müssen. Er soll gesagt haben: »Vier Stunden schläft der Mann, fünf Stunden die Frau, sechs ein Idiot.« So ganz hat das wohl auch bei Napoleon nicht funktioniert, denn er sei immer wieder auf seinem Pferd eingeschlafen, und seine Leute waren froh, wenn er nicht heruntergefallen ist …

Regelmäßig abzuschalten und sich zu erholen ist wichtig, um wach und widerstandsfähig zu bleiben. Dabei muss es nicht um eine strikte Trennung von Aufgaben und Freizeit, Beruf und Privatem gehen. Zwischendrin an etwas anderes zu denken, etwas anderes zu erleben und zu sehen, uns mit anderen Themen und anderen Menschen zu beschäftigen lässt uns kurz- und längerfristig Distanz gewinnen und aus der Tretmühle aussteigen. Ein Hobby, dem wir gern nachgehen und das unsere Aufmerksamkeit erfordert, bietet einen guten Ausgleich zu unserer sonstigen Beschäftigung in der Firma oder im Ehrenamt. Der Jahresurlaub reicht übrigens nicht, denn spätestens eine Woche nach der Rückkehr sind wir wieder in unserem alten Gedanken- und Verhaltenstrott. Die Erholung ist nach einer Woche dahin, selbst wenn wir mehr als zwei Wochen in Urlaub waren. Die positiven Effekte des Urlaubs sind ab dem achten Urlaubstag am stärksten, was die Autoren der entsprechenden Studie veranlasste zu empfehlen, mehrmals im Jahr etwa acht Tage Urlaub zu machen, um möglichst große Erholung über die Freizeiten zu generieren.[5]

Auf den einen Urlaub können wir uns also nicht verlassen, wenn es ums Thema »Abschalten« geht. Wir müssen uns im Alltag immer wieder Möglichkeiten schaffen, in denen wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit auf anderes richten und die »Arbeit« aus dem Kopf bekommen.

Das klingt einfach, ist aber gar nicht so leicht. Die ständige Erreichbarkeit wird oft als Grund aufgeführt, weshalb wir nur mehr schlecht abschalten können. Interessanterweise zeigen allerdings nur 12 Prozent der Erwerbstätigen ein hohes und sehr hohes und weitere 15 Prozent ein mittleres Maß an Verfügbarkeit, wenn tatsächliche Erreichbarkeit erhoben wird (zum Beispiel, ob abends zu Hause E-Mails bearbeitet oder im Urlaub dienstliche Anrufe entgegengenommen werden) und nicht nur gemeint ist, dass Kollegen oder die Firma prinzipiell die private Nummer haben.[6] Es muss also noch andere Gründe geben. Heutzutage ist es wirklich schwierig, das Ende des Arbeitstags zu definieren. Nie sind alle Anfragen abgearbeitet, immer gäbe es etwas, was man noch tun könnte und vermeintlich müsste. Durch neue Technologien haben wir die Möglichkeit, E-Mails und so weiter auch von zu Hause aus zu bearbeiten; und wenn wir unsere Arbeitsaufgaben beschließen, kommen unsere privaten Möglichkeiten und Verpflichtungen dazu. So ist auch unsere Freizeit (im Wortlaut ja eigentlich freie Zeit) zu einer einzigen Agenda geworden. Insofern liegt eine große Verantwortung bei uns, selbst zu entscheiden, wann der Arbeitstag vorbei ist und wie wir in unserer Freizeit bewusst freie Zeit erhalten. Wir dürfen nicht allein auf die Ansage unserer Vorgesetzten warten. Schön, wenn eine sinnvolle Begrenzung von Führungsseite kommt, wir sind jedoch in der Regel diejenigen, die einen Schlussstrich ziehen müssen, und zwar bei beruflichen und bei privaten Aufgaben. Wir schalten in unserer Eigenverantwortung das Smartphone, den Fernseher, die Nachrichten ab, um Erholungszeiten zu finden oder eben nicht: Jeden Fünften unter dreißig und jeden Zehnten zwischen dreißig und vierzig Jahren stört zum Beispiel das Handy beim Schlafen: »Mein Smartphone auf dem Nachttisch verhindert häufig einen erholsamen Schlaf.«[7] Wieso liegt es denn dann dort?

Wie lässt sich das »Abschalten« gut in den Alltag integrieren? Sie brauchen keine langen Pausen, es muss nicht immer der Feierabend, das Wochenende oder der Urlaub sein. Viel wichtiger ist es, dass Sie tagsüber Ihrem Körper und Gehirn zwischendurch Pausen gönnen, um den Adrenalinspiegel zu senken und in die Entspannung zu kommen. Da die Stresshormone relativ schnell abgebaut werden, reichen schon regelmäßige kleinere Pausen von fünf Minuten, in denen Sie erstens Ihre Körperhaltung ändern (aufstehen, Treppen steigen, sich strecken), zweitens den Ort wechseln (an die frische Luft oder in ein anderes Zimmer gehen) und drittens an etwas anderes denken (an das Abendessen, den bevorstehenden Urlaub) oder sich mit Kollegen über die Freizeit austauschen. Wichtig ist, dass der Körper und das Gehirn nicht verlernen, zu entspannen und »runterzuregulieren«. Wie soll das Gehirn sonst am Abend im Bett die sorgenvollen Gedanken abschalten, wenn es bis kurz vor dem Schlafengehen dauerhaft in Anspannung und Alarmbereitschaft war? Woher sollen denn die Blutgefäße wissen, dass sie sich entspannen und wieder weit stellen dürfen, um den Blutdruck zu senken, wenn sie den ganzen Tag im Kampf-oder Flucht-Modus waren und den Körper dafür mit Blut versorgen mussten? Gutes Abschalten kann also nur funktionieren, wenn Sie es auch tagsüber in Ihren Alltag integrieren und regelmäßig zulassen. Notieren Sie kleine Pausen als Termine in Ihrem Kalender, erinnern Sie sich mit dem Timer Ihres Smartphones daran, für fünf Minuten Abstand zu gewinnen und durchzuatmen.

Was kann uns darüber hinaus dabei helfen, dass wir regelmäßig abschalten? Hier ein paar Beispiele:

  1. Machen Sie tagsüber Pausen ohne Handy und ohne Laptop. Wenn Sie Brösel in Ihrer PC-Tastatur finden, ist das ein schlechtes Zeichen.
  2. Nehmen Sie sich Zeit, laufende Prozesse am Arbeitsplatz noch abzuschließen, um sie weder in Gedanken noch als Akten oder im Laptop mit nach Hause nehmen zu müssen.
  3. Erstellen Sie vor dem Feierabend eine realistische Agenda für den nächsten Tag. Haken Sie die erledigten Punkte der heutigen Liste ab. Wir lieben solche To-do-Listen, und vor allem das Abhaken gibt uns ein gutes Gefühl.
  4. Etablieren Sie wenn möglich ein Ritual am Schreibtisch, um den Feierabend einzuläuten (zum Beispiel dreimal auf den Schreibtisch klopfen oder ein Schild aufstellen mit der Aufschrift »Feierabend« …). So konditionieren Sie Ihr Gehirn auf Freizeit.
  5. Nutzen Sie die Zeit im Auto oder in der Bahn zur Entspannung, und hören Sie zum Beispiel Musik oder ein Hörbuch.
  6. Zu Hause angekommen, legen Sie Ihr Dienst-Handy außer Sichtweite und schalten es aus.
  7. Gestatten Sie sich, zeitlich limitiert über Themen aus der Arbeit nachzudenken. So kämpfen Sie nicht gegen die Gedanken, sondern lassen sie begrenzt zu.
  8. Wechseln Sie, wenn Sie nach Hause kommen, Ihre Kleidung. Viele machen das ganz intuitiv. So signalisieren Sie sich: »Jetzt ist Feierabend.«
  9. Duschen Sie sich, wenn Sie nach Hause kommen. Sinnbildlich waschen Sie so die Belastungen des Tages ab.
  10. Nehmen Sie sich fünfzehn Minuten nur für sich selbst, um zu Hause beziehungsweise in Ihrer Freizeit anzukommen, falls neue, private Aufgaben anstehen (einkaufen gehen, Kinder ins Bett bringen, Steuererklärung machen).
  11. Lenken Sie sich ganz bewusst ab, lösen Sie Rätsel, hören Sie Musik, lesen Sie einen Roman, gehen Sie tanzen, machen Sie Sport, um auf andere Gedanken zu kommen. Erinnern Sie sich an die Liste der Ressourcen? Da finden Sie weitere Anregungen.
  12. Falls Sie in Ihrer Freizeit für den Arbeitgeber erreichbar sein müssen, klären Sie die genauen Zeiten ab. In den seltensten Fällen ist eine ständige 24-Stunden-Verfügbarkeit nötig. Dasselbe gilt für den Urlaub.
  13. Lesen Sie keine Mails oder SMS vor dem Schlafen oder am Wochenende, beziehungsweise begrenzen Sie die Zeiten strikt.
  14. Erlernen Sie ein Entspannungstraining (zum Beispiel Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Yoga, Meditation), um Ihre Anspannung insgesamt auf ein niedrigeres Niveau zu reduzieren. Das gibt Ihnen Puffer für die stressigen Phasen und hilft Ihnen durch die Techniken, einfacher und schneller abzuschalten.

Wählen Sie eine Strategie, und erproben Sie diese über einen Zeitraum von mehreren Wochen. Erinnern Sie sich täglich daran: per Symbol (Stopp-Schild auf dem Schreibtisch, Foto am Garderobenspiegel) und/oder per Notiz in Ihrem Kalender. Reflektieren Sie, ob Sie die Strategie regelmäßig eingesetzt haben, was Sie eventuell daran gehindert hat und ob Sie hilfreich war. Je nachdem bleiben Sie bei der Methode oder wählen und probieren eine neue. Seien Sie kritisch mit den vermeintlichen Hindernissen. Sie wissen ja, Aussagen wie »Das geht nicht«, »Es geht nur so und nicht anders«, »Ich habe keine Wahl« lasse ich nicht gelten. Es gibt immer andere Optionen. Diese mögen weder ganz leicht noch unbeschwert sein und erfordern oftmals Mut. Die Klarheit darüber, was Ihnen wirklich wichtig ist im Leben, wie Sie also Ihre Prioritäten setzen, hilft Ihnen dabei. Besser abzuschalten ist also eine Entscheidung, die Sie treffen, und erfordert Disziplin!

Lars, ein Topmanager, hatte größte Schwierigkeiten, am Abend und am Wochenende abzuschalten, weil er die unerledigten Aufgaben aus dem Büro mit nach Hause nahm, um sie da abzuarbeiten. Er hatte fast keine freien Zeiten zur Erholung und fühlte sich immer stärker erschöpft. Ihm war völlig klar, dass es ihm besserginge, wenn er die Arbeit in der Firma lassen und am Abend Sport treiben oder Freunde treffen würde. Warum tat er es dann nicht? Er glaubte, dass es nicht anders ginge, dass seine Position volles Engagement fordere und er die Aufgaben anders nicht bewältigen könnte. Seine Ansprüche und Glaubenssätze sowie Ängste vor negativen Konsequenzen trieben ihn weiter an, und er konnte kaum mehr einen anderen Blickwinkel annehmen.

Ein paar Monate später kam der Zusammenbruch. Er weinte, hatte keine Kraft mehr, fühlte sich durch Kleinigkeiten überfordert. Zunächst schleppte er sich noch zur Arbeit, doch bald ging auch das nicht mehr. Ich schrieb Lars krank und wies ihn in eine Klinik ein. Er wurde also gezwungenermaßen aus seiner Arbeit herausgezogen. Selbst in der Klinik schrieb er noch Mails und beantwortete Telefonate.

Er erholte sich innerhalb von sechs Wochen jedoch so weit, dass er wieder im Beruf einsteigen konnte. Dort hatte sich natürlich während seiner Abwesenheit nichts verändert, und er war sehr schnell wieder im selben Trott. Zu diesem Zeitpunkt begriff er immer noch nicht, dass er zwingend Erholungsphasen braucht und dass es sich bei seiner Tätigkeit letztlich nur um einen Job handelt, der es nicht wert sein kann, seine Gesundheit nachhaltig zu gefährden. Nach ein paar weiteren Wochen stand Lars wieder vor einem Zusammenbruch: Er begann in Meetings zu weinen, konnte nicht mehr schlafen, war innerlich so unruhig, dass er kaum noch sitzen konnte und ständig den Drang verspürte herumzulaufen. Seine Konzentrationsfähigkeit war stark eingeschränkt. Er fand sich in derselben Situation, die er ja schon einmal hatte, wieder.

Nun begriff er, dass sich etwas ändern musste, und zwar dass er sich ändern musste. Die Umstände würden gleich bleiben. Er reichte acht Wochen Urlaub ein, nahm also seinen Jahresurlaub und den Urlaub, den er vom letzten Jahr noch aufgeschoben hatte. Er ließ sich zwei Wochen Vorbereitungszeit, bis die Auszeit begann. Währenddessen organisierte er Vertretungsstrukturen und Notfallpläne. Nur ein einziger Kollege bekam seine Privathandynummer für den absoluten Notfall. Das Diensthandy schaltete er aus. In den acht Wochen las er keine E-Mail und wurde nie wegen eines Notfalls angerufen. Die Firma überlebte seine Abwesenheit, und es entstand kein finanzieller Schaden für das Unternehmen, was er im Vorfeld sehr befürchtet hatte. Er wurde weder gekündigt noch seiner Position enthoben. Er erlebte, dass er, genauso wie wir alle, im Beruf ersetzbar ist. Das hören wir zwar ungern, weil es uns narzisstisch kränkt, aber ja, wir alle sind im Beruf ersetzbar.

Durch diese Erfahrung gelang es ihm auch in den folgenden Urlauben und Wochenenden, das Smartphone auszuschalten und insgesamt eine deutlich größere Distanz zum Job herzustellen. Mit der Zeit und mehr Abstand kamen ihm immer größere Zweifel, wie er nur glauben konnte, dass es keine andere Option gäbe, wie er nur so viel Zeit und seine Gesundheit für ein Unternehmen, das ihm nicht einmal gehörte, hatte opfern können. Er bringt nun viel mehr Mut und Disziplin auf, Nein zu sagen gegenüber anderen und sich selbst. Er gewinnt Freiheit, Selbstbestimmung und Gesundheit, weil er wieder angemessen für sich selbst sorgt und aktiv Zeit fürs Abschalten einplant.

Für mich persönlich stellt das Abschalten eine große Herausforderung dar. Meine beste Freundin und mein Partner sind mit zentralen Rollen in meine Selbstständigkeit involviert, Privates und Berufliches mischen sich also stark. Fast alle Themen, mit denen ich mich während der Arbeit beschäftige, entsprechen meinen persönlichen Interessen, und so fällt es mir manchmal schwer, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Obwohl mir meine Arbeit sehr viel Kraft und Energie gibt, brauche ich dennoch regelmäßig Distanz, einen anderen Blickwinkel, um frisch und motiviert Projekte anzugehen. Vernachlässige ich dies, komme ich in die bereits geschilderte Situation, dass ich nur noch hetze, die Aufgaben nur noch abhaken will und mich unausgeglichen fühle. Um dem vorzubeugen, räume ich mir im Kalender als wichtige Termine grün markiert »Auszeiten« ein. Da treffe ich mich mit Freunden und rede mit ihnen über andere Themen, gehe ins Kino oder zur Massage. An freien Tagen oder Wochenenden fahren mein Partner und ich in unserem VW-Bus raus ins Grüne oder Blaue. Was anderes zu sehen hilft mir sehr beim Abschalten und »Runterkommen«. Sobald ich in unserem Genussbus sitze, so heißt er wirklich, »entschleunige« ich. Am wichtigsten wurde mir mein Ritual, zwei- bis dreimal pro Woche in der Früh zu joggen und währenddessen Achtsamkeitsübungen zu machen. Ich höre bewusst keine Musik dabei, sondern konzentriere mich auf den Geruch, die Geräusche und das, was ich sehe. Ich genieße die Natur und bekomme einen freien Kopf. So habe ich schon am Beginn des Tages etwas für mich getan.

Nach drei Jahren Homeoffice bin ich außerdem für die Arbeit in mein Büro gezogen; das war ein sehr hilfreicher Schritt, um abends leichter abzuschalten. Ich lasse mittlerweile oft meinen Laptop dort, was für mich lange unvorstellbar war. Am Abend im Bett mache ich meine Dankbarkeitsübung, und wenn sich dennoch Sorgen melden oder ich ins Grübeln gerate, dann stelle ich mir die bereits erwähnte Frage: »Wie wichtig ist das wirklich (www)?«, und die Antwort lautet meist: »Weder lebensbedrohlich für mich und andere, noch wird die Welt davon untergehen.«

Eine Situation aus meiner Klinikzeit ist mir stark in Erinnerung geblieben und hilft mir noch heute. In der Frühbesprechung in der Neurologie sah ich das Kernspinbild des Gehirns einer mit mir auf den Tag gleich jungen Frau, und es war völlig klar, dass sie in ein paar Tagen sterben würde, ohne je das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Ich nahm diese Geschichte mit nach Hause, sie hing mir noch lange nach, und es war schwer für mich abzuschalten. Die andere Seite der Medaille: Das Schicksal dieser jungen Frau erinnert mich seither daran, dass das Leben endlich ist und überraschend schnell vorbei sein kann. Wie wichtig erscheinen im Angesicht dieses Schicksals die unerledigte To-do-Liste oder eine anstehende, herausfordernde Aufgabe? Eine traurige Begebenheit, die mir jedoch hilft, die nötige Zeit und den nötigen Raum zum Abschalten zu schaffen.

[Selbstreflexion Anfang]

Welche Strategie möchte ich in meinen Alltag integrieren, um besser abzuschalten?

Wie will ich mich daran erinnern? Womit beginne ich konkret morgen?

[Selbstreflexion Ende]


[1]Techniker-Krankenkasse, a. a. O.

[2] DAK-Gesundheitsreport 2017 (DAK-Erwerbstätigenbefragung 2016), https://www.dak.de/dak/gesundheit/dak-gesundheitsreport-2017-1887058.html, abgerufen am 5.9.2018

[3] Wendsche, J./Lohmann-Haislah, A.: »A Meta-Analysis on Antecedents and Outcomes of Detachment from Work«, Frontiers in Psychology 7, 2016, S. 2072

[4] Atchley, Ruth Ann/Strayer, David L./Atchley, Paul: »Creativity in the Wild: Improving Creative Reasoning through Immersion in Natural Settings«, PLoS One 7 (12), https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0051474, abgerufen am 4.10.2018

[5] De Bloom, Jessica/Geurts, Sabine A. E./Kompier, Michael A. J.: »Vacation (after-)effects on employee health and well-being, and the role of vacation activities, experiences and sleep«, Journal of Happiness Studies 14 (2), 2013, S. 613–633

[6] Storm, Andreas (Hg.): Gesundheitsreport 2017. Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung (Band 16). Analyse der Arbeitsunfähigkeitsdaten. Update: Schlafstörungen, Hamburg, März 2017, https://www.dak.de/dak/download/gesundheitsreport-2017-1885298.pdf, abgerufen am 5.9.2018

[7] Techniker-Krankenkasse, a. a. O.

Macht Arbeit psychisch krank?

Immer mehr Mitarbeitende leiden an psychischen Erkrankungen.

Die Rate an Arbeitsunfähigkeitstagen (AU-Tage) aufgrund von psychischen Erkrankungen ist zwischen 2009 und 2018 um ca. 60% angestiegen ohne dass eine Stagnation in Sicht ist.  Aktuell muss man mit durchschnittlich 299 Krankheitstagen aufgrund von psychischen Erkrankungen pro Jahr pro 100 Mitarbeiter*innen rechnen, wie der aktuelle Fehlzeitenreport der AOK aufzeigt. Nach Angaben der deutschen Rentenversicherung hat auch der Anteil psychischer und psychosomatischer Erkrankungen an den Frühberentungen stark zugenommen, sodass mittlerweile fast jede zweite Frühberentung auf eine psychisch bedingte Erwerbsminderung zurückgeht. Als wären diese Zahlen nicht schon alarmierend genug, bildet sich in aktuellen, repräsentativen Umfragen unter deutschen Arbeitnehmer*innen ab, dass die subjektive Belastung noch viel höher liegt: mehr als 60 Prozent der Befragten fühlen sich oft gestresst und die Hälfte der Beschäftigten schätzt sich selbst als mäßig bis hoch Burnout-gefährdet ein und klagt über Beschwerden wie Rückenschmerzen, Erschöpfung oder Schlafstörungen. Viele meiner Klient*innen, die sich Unterstützung durch Coaching und Beratung suchen, sowie viele der Mitarbeiter*innen und Führungskräfte in den Unternehmen, die ich im Gesundheitsmanagement unterstütze, berichten vor allem vom Gefühl gehetzt und fremdbestimmt zu sein, nur noch To-do‘s abzuarbeiten und sie berichten von der Angst nicht mehr mitzukommen, abgehängt zu werden und „etwas“, oftmals sogar „ihr Leben“, zu verpassen. 

Auch die Gestaltung des Arbeitsumfelds wirkt entsprechend auf das Wohlbefinden der Arbeitnehmer*innen ein.

Woher kommt dieses omnipräsente Gefühl von Überforderung, Sorgen und Hetze, ist die Arbeit „schuld“? Und sind wir damit eine psychisch kranke Gesellschaft (geworden)?

Ich möchte zunächst die zweite Frage beantworten und vor dem Hintergrund der Gesamtschau der Befunde verneinen. Fast alle wissenschaftlichen Ausführungen zu diesem Thema belegen, dass es heutzutage nicht mehr Menschen gibt, die an psychischen Erkrankungen leiden und dass die AU-Raten nicht die „wahre“ Prävalenz, also Krankheitshäufigkeit, wiederspiegeln. Weiterhin erkranken ungefähr ein Drittel der Bevölkerung irgendwann in ihrem Leben an einer diagnostizierbaren und behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung, am häufigsten treten Angsterkrankungen und Depression auf. Das war vor 15 bis 20 Jahren auch schon so. Allerdings holt sich immer noch nur die Minderheit der Betroffenen professionelle Hilfe, wie sich in repräsentativen epidemiologischen Studien gezeigt hat. Zu Hausärzten, Psychotherapeuten und Psychiatern kommen häufig die Menschen, die noch die Kraft aufbringen, Wartezeiten in Kauf zu nehmen und auch hartnäckig nach einem Psychotherapietermin zu verlangen. Und so spiegeln die AU-Bescheinigungen nicht die reale Krankheitslast einer Gesellschaft wider. Es wird diskutiert, dass immer mehr sogenannte „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung“ in den Vordergrund rücken und zu Diagnosen werden und somit auf den AU-Bescheinigungen und in den Statistiken auftauchen. Ärzte scheinen besser zu differenzieren zwischen körperlichen Beschwerden und psychischen Hintergründen dieser Symptome, z.B. berücksichtigen sie bei Rückenschmerzen den stressassoziierten Kontext eher. Auch die Patienten scheinen eher bereit zu sein über ihre psychischen Probleme zu sprechen und eine „psychische“ Diagnose anzunehmen und nicht auf die körperliche Erklärung der Symptome zu bestehen. Früher hatte man Rücken, heute ein Burnout. Burnout – im Übrigen- ist keine anerkannte Diagnose, allerdings eine Vorstufe bzw. ein Risikofaktor für das Entstehen einer Depression, Angststörung oder anderer Erkrankungen. 

Zusammenfassend können wir also festhalten, dass sich die gesellschaftliche Akzeptanz über psychische Beschwerden und Probleme zu reden und sich für diese Probleme – wenn sie denn nicht zu heftig sind – Unterstützung beim Arzt (inklusive Krankmeldung und eventuell Verordnung von Medikamenten) zu holen, erhöht hat und dass auch Ärzte sensibilisierter sind. Insgesamt kann dies vielfach dabei helfen psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln und damit einer Chronifizierung vorzubeugen. Kritisch anmerken möchte ich allerdings, dass gleichzeitig oft auch Probleme in der Bewältigung von schwierigen aber völlig normalen Lebensereignissen, zum Beispiel Konflikten, Todesfällen und Trauer, Trennungen und Stress am Arbeitsplatz, pathologisiert werden. Wirklich ernsthaft erkrankte Menschen, die an schweren Depressionen, Angststörungen oder Psychosen leiden, werden weiterhin stark stigmatisiert, stigmatisieren sich damit auch selbst und erhalten nicht zuletzt deswegen eher zu spät Hilfe. 

Wenn wir nun eigentlich nicht psychisch kränker sind als früher, warum fühlen wir uns dann so sehr unter Druck, ausgebrannt und gestresst bis hin zu dem Gefühl, es nicht mehr zu schaffen, einfach nicht mehr „zu können“?

Auch dazu gibt es viel Diskussion und Spekulation. Die Veränderungen der Arbeitswelt und die Beschleunigung und zunehmende Komplexität, das hohes Maß an Unsicherheit und Instabilität, agile Arbeitsprozesse sowie weiterhin traditionelle, noch strak hierarchische und patriarchalische Unternehmenskulturen, in denen der Mensch als Ressource in den Hintergrund fällt, werden als Gründe aufgeführt. Unsere Welt ist volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig (VUCA) geworden.  Aber ist das neu? Waren unsere Vorfahren während der französischen Revolution und zwischen oder gar während der Weltkriege in stabileren Verhältnissen? Waren die Erfindungen der Dampflokomotive, des Telefons und des Automobils nicht auch mit Beschleunigung und Veränderung verbunden? Unterschätzen wir als Menschen der aktuellen Generationen vielleicht sogar unsere Resilienz, unsere seelische Widerstandsfähigkeit? Haben wir sogar vergessen oder gar nie gelernt, dass wir viel bewältigen und verkraften können, dass in Krisen Chancen liegen und sie uns sogar belastbarer für die Zukunft machen? Einige Autoren und Wissenschaftler sagen „ja“. Denn wir leben in unseren Breitengraden in den sichersten Zeiten überhaupt.

Mangelnde Wertschätzung und wenig Handlungsspielraum bei der Arbeit wirken sich negativ auf die Gesundheit aus

Noch nie war das Risiko an Mord und Krankheit zu sterben so gering wie aktuell. Noch nie waren wir sozial so gut abgesichert und haben in solch einem Überfluss gelebt, wie gerade jetzt. Und gleichzeitig sind wir einer Negativität anheimgefallen, die durch klassische und soziale Medien befeuert wird. Selbstverständlich hat auch der Arbeitskontext Einfluss auf uns. Wenn wir die wesentlichen Studien zu der Frage: „welche Faktoren am Arbeitsplatz wirken wirklich negativ auf unsere (psychische) Gesundheit aus“ zusammenfassen, bleibt eine interessante Erkenntnis übrig: es ist nicht die vermeintliche ständige Erreichbarkeit, es sind nicht mal die dauernden Unterbrechungen oder die Digitalisierung, die uns ängstigen und „fertig“ machen, es sind vor allem die mangelnde Wertschätzung (nach dem Psychologen Siegrist) und ein zu geringer Handlungsspielraum bei komplexen Aufgabestellungen (nach dem Psychologen Karasek). Es gibt eine Vielzahl von Studien, die zeigen, dass Menschen, die sich für ihren Job oder eine Aufgabe engagieren bzw. verausgaben und gefühlt zu wenig Wertschätzung (durch Lob und Anerkennung der Führungskräfte, durch einen angemessenen Lohn aber auch durch Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegschancen) zurückerhalten und / oder dass Menschen, die zu wenig selbst darüber bestimmen können, wie sie komplexe Aufgaben lösen, die z.B. Micro-Management und stark kontrollierenden Führungskräften und Strukturen unterworfen sind, in negativen Stress geraten. Dieser wiederum ist mit einer erhöhten Auftretenswahrscheinlichkeit von Depression, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eventuell auch Angststörungen assoziiert. Kommt neben mangelnder Wertschätzung, zu geringem Handlungsspielraum noch Ungerechtigkeit dazu, dann erhöht sich damit sogar das Risiko aufgrund einer Depression frühverrentet zu werden. Insgesamt muss allerdings im Auge behalten werden, dass uns die Arbeit grundsätzlich gesund erhält!  Arbeitslose Menschen, die damit aus sozialen Strukturen herausfallen, die in Unsicherheit mit Zukunftsangst und in Selbstzweifeln leben und die keiner sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen können, werden häufiger psychisch krank. 

Je mehr Stressoren von uns ferngehalten werden, umso weniger können wir lernen mit ihnen umzugehen

Wenn nun die Arbeitsplatzfaktoren nur zu einem Anteil dazu beitragen, dass wir uns so überfordert und gestresst fühlen, Ängste, Sorgen und Schlafstörungen haben, was sind dann weitere mögliche Ursachen?  Es hängt auch davon ab, wie wir mit Stress und Unsicherheiten umgehen, was wir überhaupt als negativ stressig bewerten, ob wir im Blick behalten, was im Leben wirklich wichtig und sinnstiftend ist, was zu einem zufriedenen Leben hauptsächlich beiträgt und woran wir den Erfolg unsres Leben messen. Und es hängt damit zusammen, ob wir während unseres bisherigen Lebens gelernt haben mit Unsicherheiten und Stressoren, belastenden Ereignissen und Herausforderungen umzugehen. Je beschützter wir aufwachsen, je mehr Probleme und Schwierigkeiten von uns ferngehalten werden oder wir ihnen aus dem Weg gehen, desto weniger trainieren wir unsere Kompetenzen mit Herausforderungen umzugehen, desto weniger Handlungs-Repertoire haben wir. Damit steigt unsere Angst, denn das, was wir nicht kennen und können, ängstigt uns noch mehr und lässt uns genau solche Situationen tendenziell erneut vermeiden; ein ungünstiger Kreislauf, der manchmal auch als „Hamsterrad“ bezeichnet wird. Von innen sieht ein Hamsterrad auch mal aus wie eine Karriereleiter. Wir machen uns abhängig von der Bewertung anderer, von durch die Medien und Werbung vorgegebene vermeintliche Bedürfnisse und deren Befriedigung und vergessen darüber, was wirklich wichtig im Leben ist, weil wir zu wenig reflektieren und Perspektivwechsel vornehmen. Wir sind nicht mehr gerne mit uns und unseren Gedanken alleine, – auch wieder aus einer Angst heraus-, denn es könnte sich ja zeigen, dass das was wir tun, wie wir leben, doch nicht das ist, was unseren Werten entspricht und wir wirklich wollen. Also treten wir weiter in der Mühle.  

Wertschätzendes Führungsverhalten wirkt sich positiv auf die Mitarbeiterebene aus

Wie kommen wir also als Gesellschaft wieder zurück zu einem Gefühl von Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung und zu unserer seelischen Widerstandsfähigkeit? Zunächst die Frage, was Unternehmen dazu beitragen können, damit Mitarbeiter*innen sich weniger selbst ausbrennen aber auch weniger verheizt werden – und mir ist dabei wichtig zu betonen, dass den Unternehmen, die ja der Treibstoff einer Gesellschaft sind, hierbei eine enorme Verantwortung obliegt. Im Prinzip ist es ganz einfach und kostet nicht mal viel Geld oder Zeit: Wertschätzung leben, den Mensch wieder in den Fokus rücken, ein humanistischer Umgang miteinander auch mit sich selbst, denn Führungskräfte haben eine nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion, Reflexion der Führungs- und Unternehmenswerte und vor allem Überdenken der Definition von Erfolg und der Überzeugung, dass dieser nur an Zahlen gemessen werden kann. In zahlreichen Studien konnte belegt werden, dass das Führungsverhalten direkten negativen aber auch positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit und das Stressempfinden der Mitarbeiter hat und, dass durch Führungskräfteschulungen nachhaltig Prävention betrieben werden kann. Und was kann nun jede*r für sich tun?:  Nicht darauf warten, dass sich andere, das Unternehmen, das System ändern werden und damit dann alles „besser“ wird. Sich nicht als Opfer der Umstände sehen und über die Umstände „verzweifeln“, sondern aktiv reflektieren und hinterfragen: „was kann ich konkret ändern?“ Was könnte das sein? Die positive Psychologie (nach Martin Seligman) und die Resilienzforschung bieten einige sehr einfache aber enorm wirkungsvolle Methoden: sich in Dankbarkeit zu üben ist mein Favorit. Indem wir uns täglich vor Augen führen, wofür wir dankbar sind, reduzieren wir – das zeigen etliche Studien – unsere Gefühle von Neid und Missgunst sowie unser Stresserleben, und verbessern unseren Umgang mit Unsicherheiten.

Ein Leben ohne Stress, Sorgen und Ängste gibt es nicht

Neues ängstigt uns nicht so sehr, Unsicherheiten rauben uns nicht mehr den Schlaf, wir werden gelassener, weil wir uns auf das besinnen, was wir haben, was positiv ist. Wenn wir uns dann noch um ein gutes soziales Netz kümmern, das ist nämlich der wichtigste Faktor für ein zufriedenes Leben (nicht Ruhm, beruflicher Erfolg oder gar Geld), uns ein wenig in Achtsamkeit üben um den gegenwärtigen Moment wahrzunehmen, -das einzige, was wir wirklich haben-, und unsere sogenannten Glaubenssätze oder innere Antreiber (z.B. „ich  muss es allen recht machen“, „ich möchte von allen gemocht werden“, „ich muss perfekt sein“) hinterfragen und reduzieren, dann leben wir auch in der „VUCA – Welt“ ein gutes und selbstbestimmtes Leben. Ein Leben ohne Ängste und Sorgen, ohne Schwierigkeiten, Konflikte, Trauer, Krankheit und Tod gibt es nicht. Allerdings sind wir in der Lage das alles gut zu bewältigen. „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“, sagte schon Aristoteles. 

Der Artikel ist zuerst hier erschienen: https://www.angstselbsthilfe.de/macht-arbeit-psychisch-krank/

Tatjana Reichart beim Coaching mit Klientin

Roadmap zur Selbstfürsorge

Warum Selbstliebe so wichtig ist und wie sie im Alltag integriert werden kann.

Dr. med. Tatjana Reichhart

Wieso beschäftigen wir uns gerade alle mit den Themen Stressmanagement, Resilienz, Achtsamkeit und nun auch Selbstfürsorge? Weil wir uns – und das ist nicht nur meine persönliche Erfahrung und die aus meiner Arbeit mit Klientinnen und Coachees – subjektiv gestresst, unter Druck und gehetzt fühlen und uns im permanenten Zeitdruck und Optimierungswahn befinden.

Nach einer aktuellen Befragung von Procter & Gamble unter berufstätigen Müttern, geben zwei Drittel an, immer 120 Prozent geben zu wollen. Sieben von zehn wollen stets alles perfekt machen, wobei fast jede zweite Befragte ständig ein schlechtes Gewissen hat, Familie, Partner und Freunde zu vernachlässigen. Jede zweite berufstätige Mutter erledigt die Sachen lieber selbst, als mit dem Partner darüber zu verhandeln[1]. Und repräsentative Umfragen der Techniker Krankenkasse und der PronovaBKK unter deutschen Arbeitnehmern zeigen kein entspannteres Bild: mehr als 60 Prozent fühlen sich oft gestresst.[2] 

Perfektionismus – wenn alles perfekt sein muss

Die Hälfte der Beschäftigten schätzt sich selbst als mäßig bis hoch Burnout-gefährdet ein und klagt über körperliche und psychische Beschwerden. Zum Ausgleich schauen die Befragten hauptsächlich fern oder surfen im Internet.[3] Jeder Dritte trinkt Alkohol, um »runterzukommen«. Das Thema Selbstfürsorge ist also relevant, weil wir offensichtlich verlernt haben gut für uns zu sorgen.

Dabei gibt es hilfreiche Möglichkeiten, sich vorbeugend um seine seelische Gesundheit zu kümmern. Wir lassen uns impfen, damit unser Körper mit bestimmten Erregern leichter fertig wird, putzen Zähne um Karies zu vermeiden und waschen uns die Hände, um keine Keime zu übertragen. Wir können uns auch seelisch „pflegen“! 

Lernen mit Stress umzugehen

Wie geht das und warum ist das so wichtig? Gut für sich zu sorgen ist die Basis, um den Belastungen und Anforderungen des Lebens standhalten zu können. Sie steht zwischen den Extremen »Aufopferung/Ausbrennen« und »Egoismus«. Indem wir gut für uns sorgen, uns und unsere Bedürfnisse wahr- und wichtig nehmen, stärken wir unsere Widerstandsfähigkeit. Selbstfürsorge bedeutet die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und zu erkennen, wo wir frei und handlungsfähig sind um dementsprechend unser Leben bewusst und aktiv zu gestalten. Die Basis dazu ist die Selbstreflexion; also über uns, unsere Bedürfnisse und unsere – sich widerholende- Verhaltensmuster und daraus entstehende Konsequenzen nachzudenken und darüber, wie wir unser Leben gestalten wollen, was uns wirklich wichtig ist und wer wir sein wollen. 

Stress verhindern, Burnout vermeiden

Wenn wir uns nicht oder nicht ausreichend genug um uns kümmern, dann nehmen die Stressoren, die Energieräuber, die Belastungen überhand und unser „Energiehaushalt“ gerät aus der Bahn oder -in einem anderen Bild gesprochen- unser Fass läuft über, wir erschöpfen uns, werden unzufrieden, deprimiert und im ungünstigsten Fall sogar krank. Häufig bemerken wir zunächst, dass wir uns fremdbestimmt, gehetzt und unausgeglichen fühlen. Oft haben wir das Gefühl, dass es nicht anders gehe und wir keine Alternative hätten. Unsere Wahrnehmung engt sich also ein. Unser Körper und unsere Psyche sind die besten Signalgeber: wenn wir drohen aus dem Gleichgewicht zu geraten schicken sie uns Warnzeichen, wie Kopfschmerzen, Ohrgeräusche, Schlafstörungen, Nervosität, Unaufmerksamkeit oder Gereiztheit, um nur einige zu nennen. 

Mama schläft aus und nimmt sich Zeit für sich selbst
„Morgen früh übernimmst du die Kinder!“ Feste „Ausschlaftage“ sorgen rhythmisch für etwas Auszeit.

Was hält uns dann davon ab, gut für uns zu sorgen, wo es doch so wichtig ist? Jeder Mensch hat seine oder ihre eigenen Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die häufigsten Hindernisse zur guten Selbstfürsorge liegen aber meist in einem der folgenden Bereiche: 

»Ich weiß nicht, was mir guttut und warum das wichtig sein soll!« – Sie kennen ihre eigenen Bedürfnisse gar nicht (mehr).

»Mich um mich selbst zu kümmern ist doch egoistisch!« – Sie befürchten, zu ichbezogen zu sein.

»Ich darf nicht! oder Erst die Arbeit dann das Vergnügen« – Sie haben hinderliche Glaubenssätze und innere Antreiber, bei deren Missachtung ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle auftreten.  

»Alles andere ist wichtiger als ich!« – Sie setzen die falschen Prioritäten.

Und: »Ich habe keine Zeit für mich!« – Sie setzen die Prioritäten falsch und haben gelichzeitig ein ungünstiges Zeitmanagement bzw. wollen zu viel in der verfügbaren Zeit.

Der erste Schritt zu einem selbstfürsorglichen, selbstbestimmten und guten Leben ist es zu identifizieren, was Sie persönlich davon abhält, gut für sich zu sorgen. 

Raus aus den alten Mustern

Dabei lohnt es sich, die eigenen Glaubenssätze zu überprüfen und zu hinterfragen, um schließlich neue Verhaltensweisen auszuprobieren. So könnte jemand, der aus Perfektionsansprüchen heraus bisher immer auch die Bettwäsche bügelt oder bevor die Gäste kommen, das ganze Haus putzt, und sich aber eigentlich unter Zeitdruck fühlt, genau diese Tätigkeiten reduzieren und eventuell auch ganz weglassen. Das wird am Anfang mit einem unwohlen Gefühl, vielleicht sogar Schuldgefühl oder schlechtem Gewissen, begleitet. Denn auf dem Weg aus der eigenen Komfortzone heraus steht eine Türsteherin und die heißt „Angst“ oder „Sorge“. Es gilt trotzdem weiterzugehen und anderes Verhalten auszuprobieren und zu erleben, dass sich dieses zunächst unangenehme Gefühl mit der Zeit und ein paar Wiederholungen in ein freieres, selbstbestimmteres Gefühl wandelt. 

Gesunder Egoismus: Denken Sie auch an sich!

Das selbe Prinzip gilt auch für die hinderlichen Gedanken „Alles andere ist wichtiger als ich“,  „Ich habe keine Zeit für mich“ und „Selbstfürsorge ist doch egoistisch“. Auch diese Gedanken sollten Sie hinterfragen. Selbstfürsorge ist nicht egoistisch. Im Flugzeug bei Druckabfall, setzen Sie ja auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske auf, bevor Sie dem Sitznachbarn helfen. Und unser Herz versorgt erst sich selbst mit sauerstoffhaltigem Blut bevor es die anderen Organe versorgt. Nur wenn es Ihnen einigermaßen gut geht, können Sie auch für andere Menschen gut sorgen. Oder haben Sie nicht schon mal mit jemandem gestritten, weil Sie hungrig waren, Ihrem Bedürfnis zu essen nicht nachgekommen sind und dann grantig einen Streit vom Zaun gebrochen haben? Wenn wir uns selbst genug gönnen, sind wir auch anderen gegenüber weniger neidisch und missgünstig. Oder haben wir nicht schon mal nach einem langen Tag, gestresst und nicht auf unser Erholungsbedürfnis achtend zu Hause mit unserem Partner gestritten, weil die Wäsche noch nicht aufgehängt oder die Spülmaschine noch nicht eingeräumt war, während er schon vor dem Fernseher saß? Sorgen wir gut für uns, werden wir insgesamt zufriedener und ausgeglichener und sind damit auch für andere eher eine Freude und unterstützend.  

Reminder setzen für das Unterbewusstsein

Nachdem Sie sich mit Ihren Hindernissen auseinandergesetzt, Ihre Prioritäten kennengelernt haben und wissen, was Ihnen wirklich wichtig ist im Leben – zum Beispiel, dass es Ihnen gut geht- , sollten Sie eine klare Entscheidung treffen: für sich und Ihre Selbstfürsorge. Eine solche Entscheidung könnten Sie mit Erinnerungs-Symbolen verankern, um sich auch im Alltag daran zu erinnern. Zum Beispiel ein Foto am Schminkspiegel, ein bestimmter Bildschirmschoner am Smartphone, eine Verbündete, die Sie an Ihr Vorhaben erinnert oder der Eintrag zur Selbstreflexion im Terminkalender. Hauptsache, Sie installieren Erinnerungshilfen, für unser Unterbewusstsein sind dies hilfreiche Wegweiser. Denn sonst vergessen Sie Ihre guten Vorhaben und werden eher darüber frustriert, schon wieder etwas nicht „geschafft“ zu haben. 

Selbstfürsorge in den Alltag integrieren

Wenn Sie so weit sind, haben Sie mehr als die Hälfte geschafft. Nun könne Sie sich aus einer Reihe von „Meilensteinen“, diejenigen aussuchen, die für Sie leicht im Alltag integrierbar sind. Die Meilensteine sind die Kompetenzen, die den Weg zu unserer Selbstfürsorge und damit persönlichen Widerstandsfähigkeit säumen. Dazu gehört es beispielsweis die eigenen Bedürfnisse zu spüren, ernst zu nehmen um dementsprechend zu handeln. Oder die eigenen Kraftquellen (Ressourcen) zu kennen und auszubauen, als wären wir Bäume und würden unser Wurzelwerk pflegen und aktiv wachsen lassen. Zum Beispiel indem wir auf ausreichend Schlaf und körperliche Bewegung achten. Ein wichtiger Meilenstein ist realistischer Optimismus. Diesen können Sie trainieren, indem Sie sich in Dankbarkeit üben. Zählen Sie jeden Abend an Ihren 10 Fingern ab, wofür Sie heute dankbar sind. Dies lenkt Ihre Gedanken von den „To do´s“ zu den „I have´s“. Üben Sie sich in Achtsamkeit indem Sie sich immer mal wieder fragen, wie es Ihnen im Moment geht, welche Bedürfnisse im Moment haben, was Sie im hier und jetzt erleben (zum Beispiel sehen, riechen, hören, fühlen, schmecken…). Wir wissen aus der Wissenschaft, dass wir so ein stärkeres Gefühl von Selbstbestimmung gewinnen und uns weniger fremdgesteuert und gehetzt fühlen. Unser Steuerzentrum im Gehirn wird aktiviert und wir reagieren nicht mehr so automatisch, sondern können unsere Handlungen wieder besser regulieren.

Raus aus der Komfortzone

Außerdem lohnt es sich die eigene Selbstverantwortung zu stärken, indem wir unsere Komfortzone immer mal wieder verlassen und Dinge tun, die wir nicht gewohnt sind. Dadurch erwerben wir einen viel größeren Handlungsspielraum und sind gewappnet, wenn es tatsächlich mal Veränderungen in unsrem Leben gibt. Wir haben dies nun ja schon trainiert und wissen, dass wir auch Neues bewältigen können. Ein weiterer zentraler Meilenstein auf dem Weg zum guten, selbstfürsorglichen Leben ist es die eigenen soziale Beziehungen zu pflegen und sich in sozialem Verhalten zu üben. Denn Selbstfürsorge schließt das Engagement für andere explizit in einem ausgewogenen Maße ein. Wenn wir anderen Menschen helfen – ohne Gegenleistung zu erwarten-, anderen etwas Gutes tun, und sie unterstützen, tut uns das selbst gut. Sogar auf neurobiologischer Ebene: wir schütten Botenstoffe und Hormone aus, die uns besser mit Stress umgehen lassen und die uns Wohlgefühl schenken. Selbstfürsorge ist also alles andere als egoistisch.         

Es ist ein sehr schönes, lebenslanges Projekt gut für sich zu sorgen, macht Spaß und bringt Freude für Sie und Ihre Mitmenschen! Also starten Sie noch heute.


[1] Procter & Gamble: Working Mom Studie 2017: Jede dritte Mutter fühlt sich alleinerziehend trotz Partner, https://www.presseportal.de/pm/13483/3622154, abgerufen am 12.9.2018

[2] Techniker-Krankenkasse: Entspann dich, Deutschland – TK-Stressstudie 2016, https://www.tk.de/resource/blob/2026630/9154e4c71766c410dc859916aa798217/tk-stressstudie-2016-data.pdf, abgerufen am 2.10.2018

[3] PronovaBKK: Betriebliches Gesundheitsmanagement 2018. Ergebnisse der Arbeitnehmerbefragung, Februar 2018, https://www.pronovabkk.de/downloads/ae740f1f69ccabf0/pronovaBKK_BGM_Studie2018.pdf, abgerufen am 2.10.2018

Selbstfürsorge hat viele Gesichter. Ein Morgenspaziergang an der frischen Luft ist ein guter Start in den Tag und rückt den Fokus auf die schönen Dinge des Lebens.